Essen. Die irische Autorin legt mit „Seltsame Sally Diamond“ einen Roman der Extraklasse vor. Warum er unser Tipp für den Juni ist.

Kleine und große Grausamkeiten innerhalb der Familie hat Liz Nugent schon öfter in den Blick genommen. Ihr neues Buch macht da keine Ausnahme. Mit „Sally Diamond“ legt die irische Autorin ihren neuen Psychokrimi vor. Unser Tipp für den Monat Juni.

Es beginnt mit einem ziemlich geschmacklosen Scherz. Wenn er bald gestorben sei, sagt Tom, der alte Psychiater, „kannst Du mich einfach mit dem Müll entsorgen“. Gesagt, getan – nur fehlt seiner Adoptivtochter Sally jedes Verständnis für „uneigentliches“ Sprechen, also auch für seinen tiefschwarzen Humor. Deshalb folgt sie der Anweisung aufs Wort, bis die Leiche den häuslichen Müllverbrennungsofen (!) blockiert und schließlich Nachbarn wie auch die Gardaí, also die örtliche Polizei alarmiert …

Die Frau, die jetzt „Sally“ heißt und 43 Jahre als ist, hat als „Mary“ die ersten sieben Lebensjahre mit ihrer jungen Mutter im Privatkerker ihres leiblichen Vaters, eines sadistischen Zahnarztes gelebt, vielmehr: unter barbarischen Bedingungen dahinvegetiert. Und erweist sich nach ihrer Befreiung als emotional und kommunikativ schwer geschädigt: „sozial defizitär“, wie sie nun immerhin zu sagen gelernt hat…        

Liz Nugent ist in Irlands Literaturszene Spezialistin für „Kleine Grausamkeiten“

Die Autorin Liz Nugent ist in der vielfältigen Literaturszene Irlands die Spezialistin nicht nur für „Kleine Grausamkeiten“ (so hieß ihr erstes  Buch 2021 auf Deutsch) sondern auch für größere Formate und Härtegrade. „Auf der Lauer liegen“ hieß bald danach ein weiterer „bösartiger“ Roman – nun also die „Seltsame Sally Diamond“, alle souverän übersetzt von Kathrin Razum für den Göttinger Steidl Verlag, der sich um die irische Literatur seit Längerem besonders verdient macht.

Alle drei Bücher verbindet, dass sie die Familie als Spielraum der kleinen und größeren Grausamkeiten ausleuchten, man könnte sie „negative Familienromane“ nennen. Da gibt es ja auch eine stattliche Tradition seit Jahrhunderten.

„Seltsame Sally Diamond“ bietet groteske,teils anrührende Szenen

Aber jetzt verfolgen wir mit Anteilnahme, wie die „seltsame“ Sally sich allmählich freikämpft und in der sozialen Alltagswelt zurechtfindet; das geht nicht ohne teils peinliche, teils groteske, teils anrührende Szenen ab. Und wir können kaum anders als sie in all ihrer Sonderbarkeit sympathisch zu finden.

Cover des Krmis „Seltsame Sally Diamond.“
Cover des Krmis „Seltsame Sally Diamond.“ © Handout | HANDOUT

Aber dann es gibt noch eine Parallelgeschichte, die zunehmend an Bedeutung gewinnt. Da war ja im Horrorkeller des Dentisten noch ein Nebenraum, in dem ein leiblicher Bruder der kleinen Mary, der sieben Jahre ältere Peter, „fürsorglich“ kaserniert war. Inzwischen hat er mit seinem Vater, der die Entdeckung fürchten musste, unter falscher Identität am anderen Ende der Welt Zuflucht gefunden, in Neuseeland. Während der Alte ein neues Opfer findet, sucht der Sohn sich – halbherzig genug – aus dem bisherigen Leben zu lösen. 

„Seltsame Sally Diamond“ ist ein Psychokrimi der Extraklasse

Die beiden Geschichten sind, auch erzählerisch, miteinander verflochten, und wir dürfen gespannt sein, ob es nun zu einer Annäherung von Brüderlein und Schwesterlein kommen wird.

Das wollen wir hier mal offen lassen – Überraschung bis zuletzt. Und sagen stattdessen: Dieses Buch setzt uns einem intensiven Wechselbad der Gefühle aus, zwischen Entsetzen und Mitgefühl. Woraus eine enorme Spannung erwächst, der man sich nicht entziehen kann, wenn es einen auch noch so sehr gruselt. Ein Psychokrimi der Extraklasse, realistisch eingekleidet. Das hat offenbar auch Sir Ian Rankin, Senior des britischen, genauer: schottischen Krimis, beeindruckt: „Mir ist es kalt den Rücken hinuntergelaufen. Grandios.“

Liz Nugent: Seltsame Sally Diamond. Aus dem Englischen von Kathrin Razum, Steidl Verlag, 389 S., 26 €.