Ruhr. .
Im Jahr 2010 wurde das Unmögliche Wirklichkeit: die Kulturhauptstadt. Ein Rückblick auf Ruhr.2010, das zum Staunen schön war, von der Lichtkunst in Bönen über den Day of Song bis zu den wilden Slam-Poeten.
Manchmal steckt das Große im Kleinen. Kürzlich sah ich in der WAZ eine Eigenanzeige, die mich staunen ließ; sie zeigte ein Foto von August Macke und eine winzige Reproduktion seines „Hutladens“. Daneben stand: „Die Entfaltung der Farbe und ihrer Leuchtkraft ist typisch für seine Bilder, in denen er gleichnishaft seine Empfindung von der Schönheit des Lebens und der Welt umsetzte.“ Wie bitte?
Die Antwort fand ich unten links. „Von der Idee zum Erfolg! Die Rhein-Ruhr-Region ist bestimmt durch kreative Menschen, auf deren Ideen Sie nicht verzichten sollten.“
Ich war beeindruckt. Die WAZ hatte immer ein Herz für Kultur, aber das war neu. Es war der Beweis, dass die Kulturhauptstadt der Region die Augen geöffnet hat. Für das, was Kultur kann. Wer hätte ge-dacht, dass sie sich fürs Anzeigengeschäft nutzen lässt?
Man hatte geunkt: Das geht gaanich
Ruhr.2010 geht zu Ende; ein Wahnsinnsjahr. Der Organisator der Kulturhauptstadt Linz hatte geunkt: Das geht ganich. Kulturhauptstadt geht im Prinzip nicht, aber eine Region, 53 Städte: gaanich. Und dann ging die Kulturhauptstadt nicht, sie flog wie ein Vogel.
Zum Beispiel in Bönen. Leute, die über Lichtkunst nicht mehr wussten als, sagen wir: Sie und ich, holten Künstler in ihre Wohnzimmer, Dielen und Garagen, öffneten einen Frühling lang fremden Menschen ihre Tür und zeigten, was der Künstler ihnen übers Sofa montiert hatte. Fantastisch.
Oder die „Odyssee“, diese Reise von einem Theater zum nächsten, sechs Stücke an zwei Tagen; ein Wahnsinn besonderer Art, mit Stullenpaket zum Durchhalten. Oder Schachtzeichen, die ächzten in Windböen mitten im Mai, aber die Besucher radelten in Scharen hin, aßen Bratwurst und lernten etwas über unsere Vergangenheit, den Bergbau. Oder Mahlers Symphonie der tausend Musiker, die einen Sturm andrer Art entfachte, oder der Day of Song, bei dem die Menschen in den Straßen sangen.
Nix mit: nur Picknick machen
Und alle die neuen Museen: das Ruhr-Museum, an dessen rotglühender Rolltreppe sie am Wochenende Schlange stehen; Folkwang, wo sie immer Schlange stehen und das Hagener Schumacher Mu-seum, wo sie leider noch nicht so richtig Schlange stehen.
Von der A 40 wollen wir gar nicht reden, dem meistgehassten Projekt 2010, das die Gegner nachher lieber gar nicht mehr erwähnten, denn es gab nur, nur Gutes zu erzählen: dass alle fröhlich waren, und nix mit: nur Picknick machen und Bierdosen schwenken; manche sangen, manche tanzten; manche verschenkten Gedichte. In meiner Küche hängt jetzt „Die letzte Kornblume“ von Klabund.
Und dann gab es die kleinen Erlebnisse; die Samstagnachmittagradfahrt über die Emscherinsel, vorbei an putzigen oder sinnreichen Skulpturen. Das mittelalterliche Osterspiel im Essener Münster, Wiegenlieder in der Mercatorhalle, Dönerfestival in Marxloh; und die wilden Slam-Poeten.Wo anfangen und wo aufhören?
Dann kam die Loveparade. Und für einen langen Moment stand alles still; Tod und Schuld brachen furchtbar in unser Fest. Wir standen verstört und trauerten; und kehrten ins Leben zurück, wie immer, wenn nach einer Katastrophe die Welt noch steht und die Sonne aufgeht.
Es ging weiter, es muss weitergehen. Denn die Kulturhauptstadt, die als buntes Vergnügen kam, wollte Tiefernstes: Veränderung. Und da hat etwas angefangen, in Witten auf dem Hohenstein hört man Familien schwäbisch den Ausblick loben, am Dortmunder Hauptbahnhof kämpfen Paare mit dem Stadtplan und auf Zollverein packen Frauen ihre Männer resolut am Ärmel: „Boah ey, samma, hier bisse onnonich gewesen, watt?“
Das Ruhrgebiet hat seine eigene Romantik
2010 haben wir das Ruhrgebiet kennengelernt, auch die Ecken, die unser Mutter nie zu sehen gekriegt hat. Wir haben begriffen, dass wir zusammengehören und dass es schön ist bei uns, auch wenn Gelsenkirchen keine pittoreske Altstadt hat und Wanne-Eickel keine verträumten Brücken. Aber das Ruhrgebiet hat seine eigene Romantik: rostigrote Industriekultur, Relikte der Arbeit, die es hier nicht mehr gibt. Zum Staunen schön.
Und jetzt? Muss aus der Kulturhauptstadt etwas werden, das uns weiterbringt. Da sind Politiker und Museumsdirektoren gefragt! Aber nicht nur die; Solidarität kann jeder, und Teilnahme auch. Wer noch nie im Museum war und nicht weiß, was er da soll: muss es einfach mal probieren. Und wer in Bochum gern ins Schauspielhaus geht und keine Ahnung hat, was für tolles Theater in Mülheim gemacht wird - muss es einfach probieren! Wenn das gelingt, sind wir einen Schritt weiter: Denn Kunst macht glücklich. Mehr geht nicht. Geht gaanich.