Duisburg/Essen/Dortmund. .

Nichts symbolisiert das Revier so wie die A 40 und das Leben am Rande. 22 Projekte machten 2010 sichtbar, wie viel Revier-Leben hinter der Lärmschutzwand stattfindet: „Die Schönheit der großen Straße“ im Rückblick.

Das große Monument, das Denkmal, das von der Kulturhauptstadt 2010 bleiben wird? Wohl kaum der präpotente „Herkules“ von Markus Lüpertz, den sich der Kulturhauptstadt-Direktor Karl-Heinz Petzinka am 18. Dezember auf das Dach des Gelsenkirchener Nordstern-Turms setzen lässt. In der Re­gion, die das eine, alles repräsentierende Wahrzeichen weder hat noch haben will, wird es der 18. Juli 2010 sein, der bleibt: das „Still-Leben“ auf der A 40 und die Erinnerung der Millionen Menschen, die zwischen Fahrradstau und Mitmachschau flanierten, fotografierten, filmten.

Es war dieser Tag, an dem die Menschen des Reviers – wie seit Jahrzehnten eingeübt – eine einmalige Chance ergriffen, als sie da war. Sie haben sich den Raum, der sonst eine der wenigen echten „No go-Areas“ im Lande ist, angeeignet und zum Lebensraum gemacht.

22 Projekte machten sichtbar, wie viel Revier-Leben hinter der Lärmschutzwand stattfindet

Dass die frühere B 1 und heutige A 40 einen erzählfreudigen Symbolwert für das Ruhrgebiet und seine Bewohner hat, offenbarte noch mehr die eigenwillige Kunstausstellung „Die Schönheit der großen Straße“, die von den deutschen Kunstkritikern zur „besonderen Ausstellung des Jahres“ gewählt wurde. Es war Kunst zwischen Happening und sozialer Feldforschung, nicht immer schön, aber zum Staunen: 22 Projekte machten sichtbar, wie viel Revier-Leben hinter der Lärmschutzwand, in lauter Nachbarschaft zur Autobahn stattfindet.

Auch interessant

Wer wusste schon, dass mitten im Autobahnkreuz Kaiserberg bei „Delikatfisch Braun“ feinste Forellen gezüchtet und geräuchert werden? Oder dass die zähen Bewohner der dortigen Werth­acker-Siedlung tapfer um ihre St. Martinus-Kapelle kämpften, die das Bistum Essen 2006 schon aufgegeben hatte. Die niederländische Künstlerin Jeanne van Heeswijk, mehrfache Teilnehmerin der Biennale von Venedig, baute dem kleinen widerständigen Dorf eine mächtige „gallische Tafel“ vor die Kirche – hier wurde nicht nur gefeiert und getanzt, sondern auch die Idee entwickelt, die halbe Kirche zu verkaufen, um die restliche Hälfte mit dem Turm und der „Siedlerklause“ im Keller (um die es den Dörflern eigentlich ging) erhalten zu können.

Ringsum entstand ein „Wanderweg im Landschaftspark Kreuz Kaiserberg“, der die vielen Fußwege dort nutzte und an den buchstäblichen „Zoo“-Büschen vor­beiführt, mit denen man geschickt das Verbot von Werbetafeln an der Autobahn umgeht.

Toleranzschmiede Ruhr

Andere Künstler dockten am freitäglichen Tuner-Treffen an der Bochumer Ausfahrt Dückerweg an, wo der Traum vom Besonderen in aufgemotzten Corsas kristallisiert: „Das ist eine originale Sehenswürdigkeit“, sagt Ausstellungsmacher Markus Am­bach, der die Schau mit einem Etat von 500 000 Euro organisiert hat: „In Tokio gibt es einen ähnlichen Treffpunkt für Elvis-Imitatoren – eine Touristen-Attraktion, die in jedem Reiseführer steht!“

Offenbart hat die Ausstellung die Qualitäten der Ruhrgebietsmenschen, die noch schwierigsten Nachbarschaften Lebensqualität abgewinnen, die flexibel auf Unbeständigkeit und Zusammenbrüche reagieren. So zählt der Dortmunder Raumplaner Dirk Haas die „Psychographie“, die man auch Mentalität nennen kann, zu den „su­permodernen Eigenschaften“ des Ruhrgebiets. Diese „Toleranzschmiede“, so Haas, sei ge­prägt von Nachlässigkeit, Nestbautrieb und einer „Kann, muss aber nicht“-Haltung: „Eine Region, in der ausgeklügelte Zentren-Hierarchien von der regional agierenden Bevölkerung tagtäglich lässig außer Kraft gesetzt werden, hat eben andere raumstrukturelle Qualitäten und soziale Begabungen als eine konzentrische Metropolregion.“