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Gemessen am Aufschrei muss der „Schreibheft“-Macher Norbert Wehr exakt dahin getroffen haben, wo es wehtut: Nach seiner heftigen Kritik am Literaturprogramm der Kulturhauptstadt im WAZ-Interview am vergangenen Freitag reagierte „Ruhr.2010“.
Gemessen am Aufschrei muss der „Schreibheft“-Macher Norbert Wehr exakt dahin getroffen haben, wo es wehtut: Nach seiner heftigen Kritik am Literaturprogramm der Kulturhauptstadt im WAZ-Interview am vergangenen Freitag reagierte „Ruhr.2010“ mit mehr oder minder sprachspielerischer „Gegen-Wehr“ – und listete etliche der „gut 1000 Literaturveranstaltungen mit mehr als 70 000 Besuchern“ im Kulturhauptstadtjahr auf.
Einmal mehr erliegt Ruhr.2010 der Magie der großen Zahl. Angeführt hat man dazu auch solche Lesungen, die im internen „Ruhr.2010“- Jargon zunächst als „Ohnehin-Festivals“ galten – Lesereihen also, die auch ohne Zutun einer Kulturhauptstadt regelmäßig über die Bühne gehen: die „LiteraturRE“ in Recklinghausen etwa, die deutsch-türkische Buchmesse Ruhr oder das Krimilesen „Mord am Hellweg“ (das allein für ein Drittel der Gesamtbesucherzahl sorgte). Für die „Ohnehin“-Festivals gab’s meist Zusatzgeld und etwas Unterstützung im Marketing für die Veranstalter, und schon pappte das Ruhr.2010-Logo drauf.
Die Literatur-Szene wurde nicht gehört und nicht gesehen
Selbstverständlich umfasst die Lese-Liste der Kulturhauptstadt auch so verdienstvolle Projekte wie die des P.E.N.-Zentrums Deutschland und der Robert-Bosch-Stiftung: Da gingen mal fünf, mal sechs Autoren in Schulen des Ruhrgebiets, um Kindern und Jugendlichen etwas vom literarischen Schreiben zu vermitteln. Wobei das P.E.N.-Projekt ohnehin mit Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung lief und nur die Abschlusspräsentation des herausgekommenen Buchs unter der Ruhr.2010-Flagge.
Symptomatisch ist daran jedoch etwas anderes: Das bundesweit erste, vorbildliche „Schulschreiber“-Projekt hatte vor Jahren schon das Literaturbüro Ruhr in Gladbeck gestaltet. Doch dessen Erfahrungen und Kompetenzen wurden gar nicht abgerufen; statt dessen durfte das Literaturbüro mit „Mehr Licht!“ eine außergewöhnliche Lesereihe beantragen und organisieren, mit so viel Niveau wie schon seit Jahren.
Und hier dürfte ein Grund dafür liegen, warum Nobert Wehr mit seiner Kulturhauptstadt-Kritik vielen in der Ruhr-Szene aus der Seele gesprochen hat: Sie wurden nicht gehört und gesehen. Da gab es zwar im Vorfeld ein Treffen der „Ruhr.2010“- Spitze mit rund 60 Literatur-Sachverständigen des Reviers. Die Literatur-Szene hatte eine erste Debatte über das Programm erwartet – die Kulturhauptstadt indes wohl durchdachte Projekte – so dass deren Chef Fritz Pleitgen am Ende von einer „Enttäuschung“ sprach und mit dem Vorschlag spielte, eventuell einen Ableger der „Lit.Cologne“ zu importieren. So krass kam es nicht, die Fixierung auf Events und Kampagnen lässt sich an dieser Überlegung aber allemal ablesen.
Einige Literatur-Liebhaber in der Ruhr.2010-Spitze, wenig genuinen Sachverstand
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Es gab gewiss manche Literatur-Liebhaber in der Ruhr.2010-Spitze, aber wenig genuinen Sachverstand. Das hätte sich ausgleichen lassen können. Durch etwas weniger Beratungsresistenz etwa. Doch auf Norbert Wehrs Kulturhauptstadt-Kritik – „Ich bedaure, dass es nicht genug anspruchsvolle literarische Veranstaltungen gab“ – reagierten die Ruhr.2010-Macher mit der „geflissentlich“ genannten und borniert klingenden Rückfrage, „wer denn genau definieren darf, was Anspruch heißt“. Wehr, die Literaturbüros und andere definieren das seit Jahrzehnten mit anspruchsvollen Literaturabenden, von der klassischen Wasserglaslesung über flammende Lyrik bis zum Podiumsgespräch mit dem Serbenversteher Peter Handke, mit Entdeckungen und Experimenten.
Abgesehen davon hat die Kulturhauptstadt auch die Chance vertan, für die Literatur im Revier etwas Nachhaltiges zu bewirken. Das Literaturhaus Ruhr, das schon seit einer halben Ewigkeit von verschiedenen Seiten (zuletzt von Günter Grass) herbeigesehnt wird, war 2010 nicht einmal Gegenstand einer öffentlichen Diskussion.