Neu im Kino: Dresens lange erwarteter „Kurnaz“-Film, eine Zeichentrick-Produktion von überragendem Rang, ein filmisches Experiment über die Ehe.
„Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“
Rabiye ist Deutschtürkin, glänzend integriert und vom Wesen her das reinste Sonnenscheinchen. Aber als ihr erwachsener Sohn Murat kurz vor seiner Hochzeit nach Afghanistan reist und spurlos verschwindet, wendet sie sich an Bernhard Docke, einen Anwalt für Menschenrechtsfragen. Der übernimmt den Fall und ahnt nicht im Mindesten, mit welcher Art von Frau er es fortan zu tun haben wird. Eine David-gegen-Goliath-Geschichte nach wahrer Begebenheit, die Andreas Dresen („Gundermann“) in gefälliger Balance zwischen Heiterkeit und Besinnlichem einpendelt. Meltem Kaptan erweist sich als Idealbesetzung der ewig optimistischen Hauptfigur, aber jenseits des dicken emotionalen Pinselstrichs zeigt Alexander Scheer („Gundermann“) eine außerordentlich kontrollierte Darbietung zwischen Slapstick-Timing und nuancierter Charakterstudie. Dass es trotz des schwierigen Themas ein Gute-Laune-Film wurde, hat allerdings zuvorderst mit dem realen Verlauf der Ereignisse zu tun als mit ausgefeilter Finesse von Regie und Drehbuch.
„Die Odyssee“
In einem fremden Land am Rande Europas: Die Geschwister Konya und ihr jüngerer Bruder Adriel werden auf der Flucht vor gewalttätigen Überfällen von ihrer Familie getrennt und müssen sich allein zum Hafen an der Grenze durchschlagen. Der gefahrvolle Weg ist geprägt von Verrat, Menschenhandel und Angst vor Verhaftung, aber auch von Liebe, Solidarität und Freundschaft. Der erste Langfilm der Trickkünstlerin Florence Miailhe gießt seine enorm spannend erzählte Geschichte in eine aufgrund ihres künstlerischen Aufwands selten genutzte Animationstechnik. Jedes Bild wurde in seiner detaillierten, farbenprächtigen Ausgestaltung mit Ölfarben auf Glas gemalt. Jede individuelle Bewegung einer Figur musste auf separatem Untergrund gemalt und dann vor der Kamera in die Hintergrundzeichnungen eingepasst werden. Die Figurenzeichnung beschwört den franko-belgischen Comic der 70er- und 80er-Jahre, Hintergründe und Details entfesseln einen sinnlich nuancierten Reichtum an Formen und Farben. Dies ist kein Film für Kleinkinder, sondern ein Kinoerlebnis zum Schauen und Mitfiebern in betörender, verstörender Schönheit.
„Vortex“
Szenen einer französischen Ehe. Beide sind schon hoch betagt. Der Mann (Dario Argento) war Filmjournalist und klammert sich an eine letzte Arbeit, ein Buch über Kino und Träume. Die Frau (Francoise Lebrun) war Psychiaterin, aber nun entgleitet sie immer mehr in die Demenz. Skandalregisseur Gaspard Noë („Irreversibel“) verzichtet in seiner jüngsten Arbeit auf grellen Schock um Sex, Gewalt und Drogen, weiß aber auch bei extremer Entschleunigung das Publikum künstlerisch herauszufordern. Denn die Alltagswege von Mann und Frau laufen in jeweils eigenem Bild nebeneinander auf der Leinwand ab und finden nur in wenigen Momenten zu einem großen Breitbild zusammen. Eine herausfordernde Entscheidung, die aber vor allem bei Zuschauen Faszination auslösen dürfte, die Formfragen höher schätzen als den Inhalt.
„Wolke unterm Dach“
Krankenpfleger Paul (Frederick Lau) muss sich nach dem vorzeitigen Tod seiner Frau (Hannah Herzsprung) als alleinerziehender Vater seiner kleinen Tochter beweisen und scheitert beinah fürchterlich. Ein maskulines Melodram nach wahrer Geschichte, angereichert mit verhaltenen fantastischen Elementen, inszeniert von Alain Gsponer („Heidi“) im heiter-besinnlichen Stil eines Degeto-Fernsehspiels für den gefühligen Mittwochabend.
„Final Account“
Der Dokumentarfilmer Luke Holland bereiste 2008 Deutschland und Österreich und suchte Überlebende des NS-Regimes auf, um mit ihnen über ihren Werdegang im System, den Holocaust und die Folgen zu sprechen. „Final Account“ ist ein Film, der als Dokument kollektiver Verdrängung und individueller Auswüchse von Verleugnung und Unbelehrbarkeit nachhaltig aufrüttelt. Künstlerische Defizite und dokumentarische Disziplinlosigkeiten werfen in der zweiten Hälfte dann allerdings unnötig viele Fragen auf.