Gelsenkirchen. Wie ist eigentlich das Leben als Vierling? Alex, Lara, Christoph und Julian (alle 23) hatten lange keine Vornamen… – Besuch bei den Geschwistern.
„Ich habe immer gesagt, gut, dass es nur vier sind. Wir haben zusammen vier Arme – mehr würde nicht gehen“, sagt Volker Jess. Vor knapp 24 Jahren ändert sich sein Leben und das seiner Frau grundlegend. Während andere junge Paare, die Familienzuwachs erwarten, bald meist zu dritt sind, lebt Familie Jess nach der Geburt der Vierlinge zu sechst. Vor allem eine große logistische Herausforderung ist das damals gewesen, oder? Mama Heike Jess ist bei der Erinnerung ganz entspannt: „Mein Mann hat immer alles geplant, wir mussten nur mitziehen.“
Sie hätten es ja nicht anders gekannt, sagen beide. „Es ist auch gar nicht so stressig“, meint der Familienvater. „Es gibt Leute, die fixieren sich so sehr auf ihr einziges Kind, dass daraus mehr Stress entsteht.“ Herausforderungen habe es schon gegeben. „Mein Mann hat immer gesagt: ,Gehen wir irgendwohin zu Besuch, ist das wie ein kleiner Umzug.’“ Denn die Baby-Grundausrüstung für Lara, Christoph, Alex und Julian muss viermal mitgenommen werden. Immerhin: Es gibt schon einen Kinderwagen für vier Babys. „Der bestand aus zwei Gestellen und war sehr variabel. Man konnte den so aufbauen, dass sich jeweils zwei Kinder gegenüber saßen. Das war schwierig zu schieben, aber es ging.“
Die Suche nach einem Kindergarten entpuppt sich als kompliziert. „Erst einmal wollte uns gar kein Kindergarten haben. Das war denen alles zu stressig“, erinnert sich Heike Jess. Bis man dann endlich einen findet, der die Kinder gern nimmt, die Familie mit offenen Armen empfängt. Die Grundschule besuchen die Vierlinge zunächst nicht gemeinsam. Die Einschulung sei deshalb anstrengend gewesen, erzählt Vater Volker. „Die beiden Veranstaltungen fanden gleichzeitig statt. Da sind meine Frau und ich mehrfach hin und her gefahren, damit alle Kinder das Gefühl hatten, wir sind dabei.“
Immer alle alles gleichzeitig
Was möglich ist, machen die Vierlinge zusammen und schnell entsteht daraus eine Art Markenzeichen. „Wir hatten lange keine Vornamen. Es hieß immer nur: die Vierlinge“, sagt Lara und schmunzelt. „Und wenn nur einer von uns irgendwo dabei war, dann hieß es: einer von den Vierlingen.“ Diese geballte Geschwisterkraft habe auch Vorteile gehabt, erinnert sich Julian: „Wenn bei den Pfadfinderstunden einige Kinder abgesagt hatten, wurde immer gefragt, kommen die Vierlinge? Wenn ja, findet die Gruppenstunde statt.“
„Wir haben anfangs alles zusammen gemacht“, erzählt Christoph. „Wir waren bei den Pfadfindern und alle beim Kampfsport, haben zusammen Leichtathletik gemacht.“ Lange sei das so gegangen. Gemeinsam machen die vier Jess-Sprösslinge den Mofa-Führerschein und später den fürs Auto. Ein großer Vorteil, findet Mutter Heike. „Die konnten immer alles gleichzeitig. Das ging schon ganz früh los. Wenn sich der erste die Schuhe allein zubinden konnte, dann sagten die anderen, das will ich auch.“ Ein kleiner Wettbewerb also. Und zugleich ein großer, tiefgehender Zusammenhalt? „Ja“, bestätigt Alexander. „Wir kennen es ja auch nicht anders. Wir waren nie allein“, meint Christoph. Und das habe viele Vorteile gehabt, ergänzt Lara: „Wenn man zum Beispiel Brötchen holen musste, hat man immer jemanden gefunden, der mitkommt.“
Die besondere Konstellation in der Familie Jess sorgt natürlich mit den Jahren auch für kuriose Momente. Ämter und Behörden etwa sind der Situation nicht immer gewachsen. Zum Beispiel das örtliche Straßenverkehrsamt. „Die haben das falsch verstanden und erst einmal gedacht, unser Kind hätte so viele Vornamen“, plaudert Papa Volker aus dem Nähkästchen.
Bei allen Gemeinsamkeiten der Vierlinge sind sie starke Individuen, unterscheiden sich in ihren Interessen, ihren sozialen Kontakten. „Das kam ja schon dadurch, dass wir auf unterschiedlichen Schulen waren“, erklärt Alex. „Wir haben alle dieselbe Erziehung genossen, aber sind ganz unterschiedlich. Christoph und ich sind eineiig und selbst bei uns ist es so. Das ist unglaublich.“ Weil auch der Freundeskreis unterschiedlich ist, werden Geburtstagsfeiern schnell zu Großveranstaltungen. „Früher hat die Mama gesagt, jeder darf maximal zwei Gäste einladen. Dann war die Bude voll.“ Später verlegt man die Feste in den Garten – auch wenn die Vierlinge bereits im März Geburtstag haben. Dann dürfe jeder zehn Gäste einladen. „Wir bauen einfach einen Pavillon auf“, erklärt Lara. „Da stehen 50 bis 60 Leute drin, die wärmen sich gegenseitig. Das geht gut.“
Vorstellung von der eigenen Großfamilie
Eine recht große Veranstaltung ist sogar das wöchentliche Familientreffen. Die Kinder gehen heute zwar ihren eigenen Weg. Immer wieder sonntags versammeln sich aber alle am elterlichen Esstisch, meist auch mit Anhang. „Das ist der Familientag. Da gibt man sich ein Update der Woche“, erzählt Julian. Für alle ist die eigene Wohnung eine ganz neue Erfahrung. „Das ist manchmal richtig langweilig“, findet Lara. Sie kann sich das Leben in einer kleinen Familie kaum vorstellen. „Ich denke immer, worüber reden die denn den ganzen Tag?“ Jetzt, wo sie alle Partner haben, erleben die vier besonders bewusst, wie Außenstehende dieses besondere Familienleben bei der ersten Begegnung empfinden. „Für meinen Freund war das ein Kulturschock“, sagt Lara. „Er hat mal davon geträumt, dass wir hier gemeinsam feiern, die Tür geht auf und es kommen immer mehr Menschen herein. Aber so ist es ja wirklich. Bei ihm sitzen bei einem Familientreffen sechs Leute am Tisch – bei uns ist es so, wenn keiner kommt.“
„Als ich meine Freundin zum ersten Mal mitgebracht habe, war es ähnlich. Auf einmal saßen da zwanzig Leute. Das ist schon viel“, erzählt Alex. Und die Angesprochene ergänzt: „Ich weiß bis heute nicht, wie alle heißen.“ Wie stellen sie sich denn eine eigene Familie vor? Alle vier erzählen, die Partner hätten Sorge, die Gene für Mehrlingsschwangerschaften kämen wieder durch. Lara selbst würde das jedoch nicht stören. „Ich hätte auch gerne viele Kinder. Mein Freund hat schon Angst und sagt, ich möchte keine vier Kinder haben. Da habe ich geantwortet, dann bekommen wir eben fünf.“
Mehrlingsgeburten
Auch wenn die Zahl der Mehrlingsgeburten in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen ist, sind sie selten. Selbst Zwillinge gibt es nicht so häufig, wie man meint.
Rund jedes 28. Kind ist ein Mehrlingskind, meist ein Zwilling. Mehr Babys innerhalb einer Schwangerschaft sind viel seltener, 0,7 Prozent der Kinder sind Drillinge, 0,01 Prozent kommen als Vierlinge auf die Welt.