Essen. Die Berg- und Talfahrten der Seele lotet der österreichische Autor Robert Seethaler in seinem neuen Roman „Ein ganzes Leben“ aus. Sein Protagonist Andreas Egger verlässt das Tal seiner Heimat nur ein einziges Mal – um in den Krieg zu ziehen.
Urig ist das Wort, das einem einfällt: ein uriges Unikat. Stellen wir uns einen wortkargen Wanderführer vor, einen kräftigen Körper und ein hinkendes rechtes Bein. So einer ist Andreas Egger, der die Touristen in ihrer bunten Funktionskleidung, mit ihren Wanderstöcken hinaufführt auf die Berge, wo gerade die Sonne aufgeht: „Im Widerschein ihres ersten Lichts wirkten die Gesichter der Touristen, als würden sie von innen heraus glühen, und Egger sah, dass sie glücklich waren.“
Für ihn selbst stellt sich die Frage nach dem Glück nicht. Wenn der Österreicher Robert Seethaler, dessen Roman „Der Trafikant“ es 2012 auf die Bestsellerliste schaffte, im neuen Werk auf nur 150 Seiten „Ein ganzes Leben“ vor uns ausbreitet, dann führt er uns in schlicht-schönen Sätzen tief hinein in eine karge, schroffe Seelenlandschaft. Als kleiner Junge kommt Andreas Egger ins Tal, wächst auf beim Großbauern Hubert Kranzstocker, der ihn mit der Gerte prügelt – einmal so fest, dass der Oberschenkelknochen bricht; es bleibt das Hinken. Als Egger groß und stark genug ist, verlässt er den Hof und verdingt sich als Gelegenheitsarbeiter, bis er Geld für ein kleines Grundstück am Rande der Baumgrenze hat. Mit Marie aus dem Wirtshaus geht er sonntags spazieren. Weil er um ihre Hand anhalten will, bietet er seine Arbeitskraft der Firma an, die die erste Seilbahn des Tales in den Berg sprengt. Seine Liebesbotschaft schreiben die Kollegen für ihn mit brennenden Petroleumsäckchen in den Berg: „Für dich, Marie“.
Das Glück endet mit einer Lawine. Und dann beginnt auch schon bald der Krieg und Egger, der Witwer, bewacht ein Felsplateau irgendwo in Russland, eine „vorgelagerte Stellung“, so sagt man ihm. Wie Egger in Gefangenschaft gerät, nach acht Jahren in sein Tal zurückkehrt, beinahe aus Versehen Bergführer wird und in einem Verschlag gleich hinter der Schule lebt, wie er das erste Mal fernsieht und sich der Avancen der Lehrerin Anna Holler erwehren muss – Robert Seethaler erzählt all dies mit so viel Lakonie und Gleichmut, als wäre die eine Erfahrung ebenso viel wert wie die andere.
Per Seilbahn in die Zukunft
Und vielleicht ist das ja auch so? Wenn in das namenlose Tal, das von Fantasiegestein gesäumt wird – Karleitnergipfel, Klufterspitze, Zwanzigerkogel – der Fortschritt als Bahn am Seil Einzug hält, bringt dies doch Eggers Leben nicht voran.
Mit seinem schmalen, lebensumspannenden Roman erinnert Seethaler auch daran, dass all unsere Gipfelstürmerei, die Irrungen und Wirrungen des Lebens letztlich nur dem einen Ende zustreben. Und die Ziele, die wir zu erreichen suchen, oft nicht mehr als Gespinste sind, ein Karleitnergipfel unserer Vorstellung.
Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Hanser, 160 S., 17,90 €. Ebook 13,99 €. Das Hörbuch (19,99 €) liest Ulrich Matthes