Essen. Er liebt es, seine Figuren auf Zeitreise zu schicken. Doch im Grunde sucht er vor verschiedenen historischen Folien doch nach dem Wesen des Menschen. Andrew Sean Greer legt mit „Ein unmögliches Leben“ einen neuen Roman vor. Ein starkes Panorama, eine Dreiecksgeschichte, die in drei Zeiten spielt.
Das Haus steht am Patchin Place in Manhattan, „westlich der Sixth Avenue, wo die Stadt trunken ins Gefüge des achtzehnten Jahrhunderts kippt“. Die Straße ist eine Sackgasse, die nicht leicht zu finden ist, erzählt Greta Wells, „aber ich verrate es euch… dreht euch herum, bis ihr das schmiedeeiserne Tor im Blick habt, späht durch die Stäbe“ – und dort hinten, das letzte Haus, das ist es.
Drei Leben: 1914, 1941, 1985
Der Schauplatz in diesem Roman also lässt sich verorten. Die Zeit aber spielt uns, wie so oft bei Andrew Sean Greer, einen gehörigen Streich.
Greta Wells hat (fast) alles verloren im Herbst 1985: Ihr Zwillingsbruder Felix ist gestorben, an Aids, dürfen wir vermuten. Gretas Freund Nathan verlässt sie. Einzig ihre Tante Ruth steht ihr zur Seite. Der letzte verzweifelte Versuch, ihrer bleiernen Stimmung zu entfliehen, ist die „Elektrokonvulsionstherapie“. Der Strom beschert Greta einen kurzen Moment, in dem sie sich wie „aus der Welt geschnitten“ fühlt – und, am nächsten Morgen wacht Greta auf im Jahr 1918.
Beziehungsdreieck als Markenzeichen
Greta hat plötzlich lange rote Locken und Tante Ruth trägt Turban. Mit Nathan, der als Soldat im Krieg weilt, ist sie verheiratet – und Felix lebt! Aber will er wirklich eine Frau heiraten? Wo ist sein Geliebter Alan in dieser Welt?
Beziehungsdreiecke sind ein Markenzeichen des US-Autors Andrew Sean Greer, ebenso das Unzeitgemäße. Im Bestseller „Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli“ tickten die Uhren anders, alterte der Romanheld rückwärts – vom Greis zum Kind. Mit den technischen Details der Zeitreise hält sich der Autor in seinem neuen Werk kaum auf, vielmehr interessiert ihn, wie sich die Zeichen der Zeit in den Figuren deuten lassen.
Auch eine Geschichte der Homosexualität
Denn Greta lebt nicht nur 1985 und 1918, sondern auch noch 1941 – in drei Versionen, alle drei auf Zeitreise. 1941 hat sie sogar einen Sohn, Fee. Ihr Bruder Felix aber wird verhaftet, weil er sich in zweifelhaften Bars herumtrieb.
Andrew Sean Greers Werk ist auch eine Geschichte der Homosexualität: Von der Epoche der Verleugnung über die Kriminalisierung bis in die todbringende Freiheit der 80er-Jahre. Vor allem aber spielt er die widerstreitenden Sehnsüchte eines Frauenlebens durch: zwischen der Sicherheit der Ehe, der Aufregung einer Affäre, der Liebe zum seelenverwandten Bruder bis zum werdenden Leben unter dem Herzen.
Meisterlich verhandelt Andrew Sean Greer große Themen mit leichter Hand. Beinahe sind wir geneigt, dieser Greta recht zu geben, wenn sie fragt: „Ist meine Geschichte wirklich so ungewöhnlich? Jeden Morgen aufzuwachen, als wären die Dinge anders gekommen – die Toten zurückgekehrt, das Verlorene wiedergewonnen – ist das denn magischer als der gewöhnliche Wahn der Hoffnung?“ Am Ende kehrt nicht jede dieser Gretas in ihre eigene Zeit zurück.
Nie war der Satz so wahr wie in diesem Roman: Die Zeit heilt alle Wunden.
Andrew S. Greer: Ein unmögliches Leben. Fischer, 334 S., 19,99 €