Mülheim. Außergewöhnliche Theaterschauplätze verlangen dem Zuschauer bisweilen einiges ab, doch für den Erkenntnisgewinn müssen hin und wieder Opfer gebracht werden. Viel gewollt und doch wieder nur Kunst der Kunst ist das Projekt „Musiktheater an der U-Bahn-Haltestelle” an der Grenze zur Parodie.
Shakespeare unter Schloten, Kafka im leeren Kaufhaus: Wie oft haben wir die Guckkastenbühne zugunsten extraordinärer Theaterschauplätze verlassen. Neben luziden Einsichten verdankte man ihnen kalte Füße, satte Schnupfen und Teer an der Hose. Gleichviel: Es galt der Kunst.
Im Ruhrgebiet (anderswo hatte man auch das schon) ist jetzt die U-Bahn dran. Die Station heißt „Eichbaum”, Anwohner nennen sie „die Schlimmste”. Das forderte Kunstmacher heraus, institutionsübergreifend: Ringlokschuppen Mülheim, Musiktheater im Revier, Schauspiel Essen, Berliner Raumlabor proklamierten „Die Verwandlung einer Haltestelle in ein Opernhaus”. Und mehr noch wollte „die Standortbestimmung in drei Zügen”: Anwohner einbinden, das Leben der Menschen in die Kunst überführen und umgekehrt. Ein Großprojekt, ein ehrgeiziges. Leider: Behauptungstheater.
Die artifiziellste, sensibelste Bühnenform
Natürlich macht ein sachter Opener Spaß, der einen Opernbariton als Jesus-Barden durch die rollende U 18 klampfen lässt, während ein inszenierter Kruppianer plaudert. Natürlich freut man sich über schlichte Klangschleifen à la Michael Nyman, serviert vom phlegmatischen Schaffner-Orchester („Ich bin schneller als jeder Opel Kadett. Und nach Feierabend ins RRZ!”). Und als in Cordula Däupers Regie zwei Sopran-Sirenen, kostümiert als Mehdorn-Sisters, zu den Plätzen locken, da denkt man: Diese Soft-Performance ist für einen Sommerabend wie gemacht.
Doch so sehr schönstes Dramaturgendeutsch („die artifiziellste, sensibelste Bühnenform dem ungeschützten Raum aussetzen”) heraufbeschwört, wie Anwohner in Texten und Biografien die Oper nähren – es bleibt Papier.
Das liegt nicht nur daran, dass man sich dieser Anwohner szenische wie textlich eher auf Statistenniveau bedient. Die uraufgeführten drei Öperchen (musikalisch in der Liga ordentlicher Abschlussarbeiten üblicher Kompositionsstudiengänge) entfernen sich vielfach geradezu unfreiwillig komisch von einer Welt, die sie mit diesem teuren Abend erobern wollen. „Simon der Erwählte” etwa: eine Kammeroper, deren Text sich auf ein serbisches Volksgedicht und Thomas Mann beruft! Echt Eichbaum? Da ist's zur Parodie nur noch ein Steinwurf.
Dieser Abend (herausragend als Sänger: Noriko Ogawa-Yatake und William Saetre) schenkt selige Augenblicke und öde Viertelstunden. Manche Bilder aber wird man nicht vergessen. Die Selbstmörderin auf dem Dach, unten ein Requiem im Frack, Notenblätter fallen in den Schacht, die A 40 rauscht. Kurz schließt sich ein unberechenbarer Kreis.
Zwischenzeitlich standen zufällig echte Jugendliche auf der Beton-Galerie, gelassenes Staunen - und weg waren sie. Zaungäste. Wie es dem wahren Leben auch diesmal wieder in der Kunst geschah.