Essen.
Der US-amerikanischen Autorin Elizabeth Strout ist mit ihrem Reigen von Kurzgeschichten aus dem Küstenstädtchen Crosby, Maine, ein großes Gesellschaftspanorama gelungen. Für „Mit Blick aufs Meer” bekam sie den Pulitzer-Preis.
Beinahe wäre dies Buch ungelesen untergangen in der Flut der Sommerbücher, zu sehr sah das Cover aus nach Frauenroman. Hellblauer Himmel, weißes Strandhaus sowie der Titel „Mit Blick aufs Meer” summierten sich zum Kitschverdacht. Dabei ist der US-amerikanischen Autorin Elizabeth Strout mit ihrem Reigen von Kurzgeschichten aus dem Küstenstädtchen Crosby, Maine, ein Gesellschaftspanorama gelungen, das an große literarische Vorbilder wie Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio” erinnert.
Also: Liebe Männer, lest auch ihr dieses Buch! Entfernt den Umschlag, meinetwegen, oder macht eine dieser modernen Schutzhüllen drum, wo „Lieblingslektüre” draufsteht, „Weltliteratur” oder einfach nur: „tolles Buch”. Alles stimmt.
Der amerikanische Titel lautet „Olive Kitteridge”; sie nämlich, ehemalige Mathematiklehrerin an Crosbys Schule, ist die Hauptperson des Romans, wenn auch nicht aller einzelnen Bestandteile. Zunächst lernen wir ihren Mann Henry kennen, Apotheker, es entwickelt sich eine Story um seine junge Angestellte Denise und ein Unglück, das ihren Ehemann trifft; Olive Kitteridge erscheint uns als herrische, unzugängliche Gattin.
Es geht um die Angst vor dem Altern, die Liebe und ihren Verlust
Wunderbare Umwege macht Elizabeth Strout, indem sie aus einzelnen Puzzleteilen die Figur der Olive Kitteridge zusammenfügt, zeichnet sie Porträts vieler weiterer Menschenleben. Wir begegnen der exzentrischen Klavierspielerin Angela O’Meara, die sich an ihrer alternden Mutter rächt. Dem vierfachen Vater Harmon, der seine Ehefrau Bonnie nicht mehr liebt - aber die Nachbarin Daisy. Der magersüchtigen Nina, die noch nicht einmal einen ganzen Muffin essen kann. Der Seniorin Jane, die im gemeinsamen Altern mit ihrem Ehemann Bob Augenblicke als „Geschenk” begreifen lernt. Ihrem Sohn Kevin, dessen Depression ihn an den Rand des Meeres treibt.
In Olive Kitteridge fügen sich alle Themen zum großen Ganzen: die Angst vor dem Altern, die Liebe und ihr Verlust, Vertrauen und dessen Missbrauch, geheime Träume und ihr Zerfließen zu Erinnerung. Aber auch: die Provinz und ihre Angst vor der Stadt, der Kampf der Generationen um Lebensstile, Weltanschauungen. Die dunklen Flecken in Olives Erziehung ihres eigenen Sohnes werden behutsam bloßgelegt, sie schockieren beinahe mehr als das eigentliche Spannungselement dieses Buches: ein Überfall, in den Olive und Henry verwickelt werden und der ihre Ehe für immer verändert.
Dass dieser Roman den Pulitzer-Preis erhielt, sagt viel über das Amerika nach Bush. Olive Kitteridge pflegt ein konservatives Weltbild, sie lebt nicht in Aufbruch-, sondern eher in Abbruchstimmung; und doch riskiert sie die letzte Liebe ihres Alters, weil dieser unmögliche Mann die Republikaner wählte. Was Olive bewahren will, ist ihre Zuversicht: „Die meisten brauchten irgendein Gefühl der Sicherheit in diesem Meer der Angst, zu dem das Leben mehr und mehr wurde. Die Menschen dachten, Liebe könnte sie retten, und vielleicht war es so.” Wie viel Trost in einem Halbsatz liegen kann.