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US-Autor Jonathan Franzen schreibt nach neun Jahren einen neuen Roman: „Freiheit“ erscheint am Mittwoch. Es ist ein ein monumentales Werk über die jüngere amerikanische Geschichte, vielstimmig und zeitspringend erzählt.
Auf Seite 653 dieses monumentalen Werkes begegnen wir einem, der sich einen „freien Mann” nennt. Es ist ein „alter Fettwanst vor einem schlammbespritzten roten Zelt”, er bekleidet eine Nebenrolle in diesem großen Ganzen, und er verdient gerade genug Geld fürs Dosenbier. Nicht aber für die Unterstützung seiner zahlreichen Kinder und der jeweiligen Mütter. Der amerikanische Albtraum.
Was ist Freiheit? Im Land der Unbegrenztheiten gibt es gleich zwei Worte dafür. Die Freiheit als Idealvorstellung ist sichtbar in der „Statue of Liberty” und festgeschrieben in der Unabhängigkeitserklärung („Life, Liberty and the pursuit of Happiness”). Die Freiheit als individuelle Unabhängigkeit meint einen Raum der Möglichkeiten, an dessen einem, wild überzeugten Ende Zwangsbeglückungen wie der Afghanistankrieg („Enduring Freedom”) oder Konkurrenzkonzepte (die „freie” Marktwirtschaft) stehen. Am anderen, zweifelnden Ende setzt der neue Roman von Jonathan Franzen an, der heutige Freiheitsvarianten – bis hin zum arbeitslosen Underdog – auf den Prüfstand stellt.
Monumentales Werk über die jüngere amerikanische Geschichte
Neun Jahre mussten die Fans von Franzens Bestseller „Die Korrekturen” warten, bis sie nun ein Werk in den Händen halten dürfen, dessen Cover ein aufbrechendes Vogel-Ei zeigt. Im Innern entfaltet sich ein Gesellschaftspanorama, das an die ausufernde Romantradition des 19. Jahrhunderts anknüpft; ein monumentales Werk über die jüngere amerikanische Geschichte der vergangenen 30 Jahre, vielstimmig und zeitspringend erzählt. Erneut lässt Franzens Prosa uns versinken – wie in ein sehr, sehr weiches Sofa, das man nur ungern wieder verlässt. Seine Figuren werden schon auf den ersten Seiten zu Menschen, die uns nahe stehen. Patty und Walter Berglund leben in einer viktorianischen Villa in einem Vorort von St. Paul, sie haben zwei Kinder, Jessica und Joey. Walter ist „grüner als Greenpeace”, Patty ist: anders. „Um einiges größer als die anderen, noch dazu weniger besonders, noch dazu deutlich dümmer.” So schreibt sie selbstironisch in ihrer Autobiografie unter dem Titel „Es wurden Fehler gemacht”, die zentraler, witziger Teil des Romans ist.
Am College lebt Patty ihr als ungesund empfundenes Konkurrenzdenken auf dem Basketballfeld aus und lernt den lieben, hilfsbereiten, netten Walter kennen – sowie den Musiker Richard Katz. Er und Walter sind innigste Freunde, ärgste Konkurrenten. Patty plagt die Freiheit der Entscheidung: Sicherheit oder Aufregung? Franzen nimmt sich hier die Freiheit, so banal zu sein wie das Leben selbst. Patty wählt Walter, weil er an das Gute in ihr glaubt, und begeht einen „Lebensfehler”. Jahrzehnte später wird sie sich, in einer wilden Nacht und befeuert durch die Lektüre von Tolstois „Krieg und Frieden”, doch noch auf Katz einlassen („Dreimal... Einmal im Schlaf, einmal stürmisch, einmal mit vollem Orchester”). Während Walter der Mittzwanzigerin Lalitha verfällt. Diese arbeitet wie er in der „Waldsängerstiftung”, die vordergründig Vögel in West Virginia retten will, aber der Kohleindustrie als Feigenblatt für den Gipfelabbau dient.
Fesseln oder Netz
Derweil läuft Pattys Sohn Joey („mühelos lässig, unerschütterlich selbstbewusst”) über zu den Konservativen, verkauft schrottreife Waffen in den Irak und steht im Begriff, seine Ehefrau mit der schönreichen Jenna zu betrügen. Wohingegen seine Schwester Jessica dem Kreis der Hauptfiguren entgleitet. In ihrem College ist ein Spruch in Stein gemeißelt: „Nutze deine Freiheit wohl.” Vielleicht hat sie es geschafft, irgendwo außerhalb dieses Romans. Sie wäre damit die einzige in ihrer Familie.
In einem Interview sagte Jonathan Franzen, es sei vielleicht sinnvoll, ein bisschen Freiheit einzutauschen gegen Überzeugungen und danach zu handeln. Ist das nicht selbstverständlich? Vielleicht muss man Amerikaner sein, um die große Provokation in diesem Roman so recht verstehen zu können, muss die Versprechen der unbeschränkten Entfaltung inhaliert haben. Franzen zeigt uns nicht einfach nur unsere Fesseln. Er deutet sie um als Netz, das uns durchs Leben trägt.