Essen/Stockholm. .
Mit Mario Vargas Llosa entschied sich das Nobel-Komitee für einen Weltbürger der Literatur: Er verbindet die südamerikanische Leidenschaft fürs Fabulieren, für das Heraufbeschwören von Welten durch Worte mit europäischer Intellektualität.
Jean-Marie Gustave Le Clezio und Herta Müller – die letzten beiden Coups des Nobelkomitees waren nicht unumstritten. Diesmal haben sich die beiden Damen und die drei Herren in Stockholm eine andere Art von Überraschung einfallen lassen, eine mehrheitsfähige: Mit Mario Vargas Llosa kürten sie einen aktuellen Literatur-Weltmeister, der vor Jahren schon mal zu den Kandidaten zählte, inzwischen aber beim Nobelpreis-Orakeln genauso in Vergessenheit geraten war wie bei den Wettbüros.
Vargas Llosa verbindet die südamerikanische Leidenschaft fürs Fabulieren, für das Heraufbeschwören von Welten durch Worte mit europäischer Intellektualität. Der heute 74 Jahre alte Großbürgersohn, der den geringsten Teil seines Lebens in seinem Heimatland Peru zugebracht hat und heute in London und New York lebt, ist der seltene Fall eines Poeta doctus, eines reflektieren Literaten, der genau weiß, was er da schreibt – und warum es gut ist.
Weltruhm schon mit den ersten Romanen
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Schon die ersten, komplexen Romane „Die Stadt und die Hunde“ und „Das grüne Haus“ brachten ihm Weltruhm. Sie kreisten, wie fast alle seine Werke, um Geschichte und Gesellschaft Perus. Immer aber zeichnen sie jene „Kartographie der Machtstrukturen und scharfkantigen Bilder von individuellem Widerstand, Revolte und Niederlage“, die dem Nobel-Komitee jetzt der 1,1 Millionen Euro schwere Preis wert war.
Und immer waren es saftig erzählte Stoffe, die nicht von ungefähr in gleich fünf Fällen verfilmt wurden. Vielleicht, weil Vargas Llosa beinahe blind auf die Kraft, auf die „Wahrheit der Lügen“ literarischer Art vertraut, wie einer seiner Essaybände überschrieben ist.
Die allmähliche Wende vom Sozialisten, der mit Castro sympathisierte, zum Neoliberalen, der seinen Kollegen Blindheit für die Unterdrückung durch Links-Regimes vorwarf, mag man als üblichen Alterungsprozess unter Intellektuellen abhaken. Der Weltbürger Vargas Llosa ist dabei aber stets ein beinharter, ja halsstarriger Demokrat geblieben. Rechts wie links: Unfreiheit und Ohnmacht haben ihn das Wort ergreifen lassen, und aus der großen Empörung, schuf er, was nur wenigen Literaten und erst recht wenigen Nobelpreisträgern gelang – ein furioses Alterswerk von Rang: Der vor zehn Jahren erschienene Roman „Das Fest des Ziegenbocks“ ist eine Generalabrechnung mit allen Diktatoren, die das mit Demokraten nicht eben gesegnete Lateinamerika hat ertragen müssen.
Selbst der notorische Nobelpreisnörgler Reich-Ranicki gab der Entscheidung seinen Segen
Dass er 1989 inPeru mit seinem Freiheits-Mantra bei der Präsidentschaftswahl gegen den Populisten Fujimori scheiterte, hat Vargas Llosa indes nicht verwunden, er verließ Peru und nahm die spanische Staatsbürgerschaft an. Seine wahre Heimat aber ist die Weltliteratur, seine Mitbürger sind Flaubert, Faulkner und Dos Passos. Ihm stehen sämtliche Stil- und Denkarten zur Verfügung, er kann Erotik („Lob der Stiefmutter“) genauso wie Krimi (sehr geradeaus: „Wer hat Palomina Molero umgebracht?“ oder „Tod in den Anden“) und Komik („Der Hauptmann und sein Frauenbataillon“).
Die Zuerkennung des Nobelpreises an Mario Vargas Llosa wird viel Zustimmung in aller Welt finden, selbst der notorische Nobelpreisnörgler Marcel Reich-Ranicki gab der Entscheidung seinen Segen. Schon deshalb wird sich das Komitee im nächsten Jahr wohl mit einem uigurischen Exil-Lyriker beschäftigen.