Frankfurt. .
Argentinien ist das Gastland der Frankfurter Buchmesse, die am 6. Oktober eröffnet wird. Neben der Gastausstellung „Kultur in Bewegung“ gibt es 147 Neuübersetzungen zu entdecken.
Können wir jemanden lieben, von dem wir glauben müssen, er habe einen Mord begangen? Wie können wir weiterleben, wenn wir geliebte Menschen verloren haben?
Diese Fragen sind, insgeheim, Kern der Literatur Argentiniens. Sowie Kernfragen des über 50 Jahre alten Krimis „Der Hass der Liebenden“, den der Manesse-Verlag nun übersetzen ließ – dem verlegerischen Rauschen ums Buchmessen-„Gastland“ sei Dank. Der sonst so abgedroschene Verweis auf eine Nähe zum großen Jorge Luis Borges ist diesmal gerechtfertigt: Das Autorenpaar Silvina Ocampo und Adolfo Bioy Casares war eng befreundet mit dem Magier, der Lichtgestalt lateinamerikanischer Literatur.
Der surreale Schimmer hinter dem Realen ist seit Borges ein Merkmal argentinischer Belletristik, das die Zäsur der Militärdiktatur überdauerte. Nach den Schrecken der Jahre 1976 bis 1983 aber begann eine literarische Aufarbeitung, die weiter Kraft zu gewinnen scheint. Ein Tanz mit wilden Geistern, noch immer gegenwärtigen Gespenstern.
Unsere Tipps anlässlich der Frankfurter Buchmesse: Sechs von 147 Neuübersetzungen.
Ein ehrlicher Polizist
Das „Geknatter von Maschinengewehren” gibt den Rhythmus vor: Das Krimi-Debüt von Ernesto Mallo, „Der Tote von der Plaza Once” (Aufbau, 224 Seiten, 19,95 Euro) treibt den atemlosen Leser durch ein von Diktatur und Terror traumatisiertes Buenos Aires. Ende der 70er Jahre ist Comisario Lascano, als ehrlicher Polizist, von Beginn an zum Tode verurteilt. Zumal er sich in die Widerstandkämpferin Eva verliebt, die seiner verstorbenen Ehefrau Marisa so ähnlich sieht. Mallo erzählt in Zeitsprüngen aus verschiedenen Perspektiven – und hält den Leser in seinem Bann. Menschen werden gefoltert, gemordet, Säuglinge ihren Müttern geraubt, der verarmte Adel kämpft gegen den Untergang, ein jüdischer Geldverleiher gegen Albträume seiner deutschen Vergangenheit. Dazwischen blitzt Menschlichkeit, Hoffnung auf.
Gespenster der Armen
Die ganz Reichen und die ganz Armen gleichen einander – „in ihrem völligen Mangel an Taktgefühl, wenn es um Geld ging”. Diese Beobachtung macht der Architekt jenes luxuriösen Rohbaus, in dem Altmeister César Aira so ganz eigene „Gespenster” (Ullstein, 168 Seiten, 18 Euro) fliegen lässt: Nackte Bauarbeiter, durch Zementstaub sichtbar, stören in einer langen Silvesternacht das Grillfest der kinderreichen chilenischen Hausmeisterfamilie auf dem Dach des unfertigen Gebäudes. Ein Fest des Surrealen, Skurrilen über eine Gesellschaft im Aufbau.
Geraubte Kinder
„76”: Dies ist das Geburtsjahr von Félix Bruzzone und Titel seines Erzählbandes (Berenberg, 142 Seiten, 19 Euro). 1976: Dies ist das Jahr, in dem Bruzzones Eltern „verschwanden” – mutmaßlich vom Militär auf dem Campo de Mayo verhört, gefoltert, unter Drogen gesetzt, getötet. Tausende Argentinier wurden auf diese Weise während der Militärdiktatur ihrer Eltern beraubt, wuchsen bei Adoptivfamilien auf. Bruzzone gibt ihnen eine Stimme: In scheinbar harmlosen Erzählungen, die vom Urlaub am Strand handeln, vom Kartenspiel oder vom Patent auf Zigaretten, die selbst bei Regen nicht ausgehen. Doch so wie diese Zigaretten verlöscht auch die Sehnsucht nicht, die Ungewissheit. Am Ende drückt einer den Glimmstengel in der Handfläche aus: „Es tut nichts mehr weh.” Erschütternd.
Der fremde Vater
War Fabio Gemelli ein Untergrundkämpfer? Oder folgt die Erinnerung seiner Geliebten „jener verqueren, doch unerbittlichen Logik” jener Zeit, „die überall Monster schuf”? Gemellis Tochter Claudia spürt nach dem Tod des Vaters drei seiner Geliebten auf, alle drei zeichnen ein anderes Bild des Künstlers. Betina Gonzáles spürt in ihrem gefühlvollen, zuweilen gefühligen Roman „Nach allen Regeln der Kunst” (Hoffmann und Campe, 192 Seiten, 18 Euro) der Macht und Ohnmacht der Erinnerungen nach.
Tränen als Währung
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Der vierjährige Supermann fliegt durch die Balkontür und trägt im Scherbenregen nur Kratzer davon: Mit dieser Szene beginnt Alan Pauls grandiose, vielschichtige, doppelbödige „Geschichte der Tränen” (Klett-Cotta, 143 Seiten, 17,95 Euro). In langen Sätzen ohne Zentrum umkreist Pauls die Leerstelle im Innern des Jungen: Dressiert darauf, sich die Sorgen der Erwachsenen zu eigen zu machen, vergießt er anerzogene Tränen – die echten wollen ihm nicht mehr gelingen. Tränen sind seine „Währung”, sein Leben ist ein „Schlachtfeld der Empfindsamkeit”. Pauls, der sich in diesem ersten Teil einer Trilogie über die Diktatur die Perspektive des Jungen zu eigen macht, beschreibt eine missbrauchte Gesellschaft, die sich selbst nicht trauen kann.
Schrecken im Innern
Eine Fünfjährige isst lebendige Vögel. Schulkinder verwandeln sich in Schmetterlinge. Der Bauch einer Schwangeren schrumpft, Magie sei Dank. Oft fließt Blut. Die Geschichten in Samantha Schweblins Erzählband „Die Wahrheit über die Zukunft” (Suhrkamp, 133 Seiten, 19,80 Euro) Horror-Stories zu nennen, aber wäre zu einfach. Die Menschen in Schweblins Geschichten nehmen das Grauen an – weil sie wissen, dass der wahre Schrecken im eigenen Innern liegt. Ein wunderbar irritierendes Werk.