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Der Deutsche Buchpreis 2010 wird am Montag, 4. Oktober, in Frankfurt verliehen. Wir stellen die sechs Romane der Shortlist vor und leiten Sie weiter zu den Leseproben der nominierten Bücher.

Sechs Bücher stehen auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2010, der am kommenden Montag, 4. Oktober, verliehen wird. So leicht und luftig das von Flugzeugen, Fliegen, Vögeln, Himmeln bestimmte Äußere der Bücher auch sei: Diese Werke besitzen Bodenhaftung. Sie untersuchen die Einflüsse von Politik und Religion auf den Einzelnen, sie behandeln geschichtlich oder politisch Brisantes – den Balkankrieg oder den 11. September 2001, den Holocaust oder Formen des Sozialismus. Ob diese kunstfertigen Gegenbeispiele leichter Kost zum heimlichen Ziel des Buchpreises führen werden, der deutschen Literatur im Ausland ein breiteres Publikum zu bescheren, sei dahingestellt. Jedenfalls spiegeln die Autorenbiografien aufs Schönste gesellschaftliche Realität: Fünf der sechs Kandidaten leben heute nicht mehr in dem Staat, in dem sie geboren wurden. Entwurzelung, Migration, die Suche nach Heimat sind so eigentlicher Kern ihrer Arbeit.

Thomas Lehr – September Fata.Morgana

Der heitere Himmel ist eine Bedrohung, zu viel ist schon (vor-)gefallen: „das Blau jenes klare scheinbar seidige Blau/ erscheint an der Kernzone von Flammen der ganze Himmel jenes Tages (in dem ich immer wieder erwache und erwache) wäre so vielleicht besser erklärt . . .” Thomas Lehrs Prosawerk „September. Fata Morgana” (Hanser, 480 S., 24,90 €) kommt ohne Punkt und Komma aus, dafür zerhacken Absätze an unerwarteten Stellen den Sprachfluss. Lehr taumelt ins Innere seiner Figuren: Aus vielen Perspektiven erzählt er die Geschichte zweier Frauen, die in Terror und Krieg sterben. Die Studentin Sabrina kommt 2001 im World Trade Center ums Leben, die junge Muna 2004 bei einem Bombenattentat in Bagdad. Thomas Lehr beschreibt den Krieg „als Fortsetzung des Computerspiels mit verheerenden Mitteln”, vor allem verwischt er Grenzen: der Sprache sowie der klaren Trennung von Tätern und Opfern.

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Melinda Nadj Abonji – Tauben fliegen auf

Atemlos: So prescht Melinda Nadj Abonjis Roman „Tauben fliegen auf” (Jung und Jung, 314 S., 22 €) dahin, in langen Sätzen, die uns kaum Luft holen lassen. Atemlos sind auch Nomi und ihre Schwester, die Ich-Erzählerin Ildiko, die mit ihren Eltern in der Schweiz leben: Einmal im Jahr nur können sie ihre Großmutter Mamika besuchen – in jenem nördlichen Teil Serbiens, in dem die ungarische Minderheit lebt. Alles wollen sie von Mamika wissen, alles, was sie in diesem Jahr verpasst haben! Denn Ildikos eigentliches Kinderleben, das ist „der weiche Singsang meiner Großmutter, . . . derbe Flüche, die unerbittliche Sommersonne und dazu der Geruch nach gedünsteten Zwiebeln, mein strenger Onkel Móric, der plötzlich aufsteht und tanzt.” Wehmut bestimmt diesen Roman. Ildikos Eltern übernehmen ein Schweizer Bahnhofscafé und kämpfen mit den Vorurteilen ihrer Gäste. Während daheim in Serbien der Balkankrieg Ildikos ungarische Familie schüttelt: Ihr Cousin wird eingezogen. Am Ende sind die Sätze immer noch lang, aber nicht atemlos, sondern fließend, versöhnlich. Ildiko wird „Papierschweizerin”: mit Ausweis.

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Doron Rabinovici – Andernorts

Sollen jüdische Jugendliche Auschwitz besichtigen? Diese Frage steht am Beginn von Doron Rabinovicis geradezu satirischem Roman „Andernorts” (Suhrkamp, 285 S., 19,90 €): Der israelische Kulturwissenschaftler Ethan Rosen polemisierte einst böse in einem auf Hebräisch verfassten Artikel gegen derartige „Lagerfeuerromantik“. In seiner zweiten Heimat Wien allerdings greift er den Kollegen Rudi Klausinger scharf an, als dieser dieselbe Kritik äußert – ja, Ethan Rosen merkt nicht, dass er selbst zitiert wird! Wer ist dieser Rosen? Ein „Mischmasch aus Tel Aviv und eine Melange aus Wien”. Einer vielversprechenden weiblichen Bekanntschaft stellt er sich gar unter falschem Namen, falscher Identität vor. In einer sachlichen, präzisen Sprache schreibt Rabinovici in diesem wohlgeformten Werk über die Fragen jüdischer Identität und Heimat – im Tonfall zwischen Amüsement und Bestürzung schwankend.

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Jan Faktor – Georgs Sorgen um die Vergangenheit . . .

Der Titel ist so erschlagend wie das Buch selbst: Jan Faktors Roman „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag” (Kiepenheuer & Witsch, 640 S., 24,95 €) unterhält aber als kurzweiligstes Werk der Shortlist mit reichlich ironisch-erotischen Einlassungen. Held Georg verlebt Kindheit und Jugend im sozialistischen Prag, in einer „riesigen, in kleiner Wohneinheiten zerhackte Wohnung” voller Tanten, Mütter, Großmütter, was eine „wechselvolle Geschichte der Kochnischen” mit sich bringt und ihn für immer süchtig nach Liebe macht. Ein (irr-)witziges Buch. Jan Faktor, der 1951 in Prag geboren wurde und 1978 nach Ostberlin zog, begegnet der tristen Farblosigkeit des Sozialismus mit überschäumendem Unsinn. Tschechische Märchen, lernen wir, gehen so: „Es war einmal, war aber auch nicht.”

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Peter Wawerzinek – Rabenliebe

Für sein stark autobiografisch gefärbtes Werk „Rabenliebe” (Galiani, 432 S., 22,95 €) erhielt Peter Wawerzinek bereits den Ingeborg-Bachmann-Preis (und wurde im Kulturteil Ihrer Zeitung ausführlich besprochen: www.derwesten.de). Wawerzinek, das „Winterkind”, wuchs auf in Kinderheimen der DDR; seine Mutter floh ohne ihn in den Westen. Die Leerstelle, die sie für immer hinterließ, die Sehnsucht, bestimmte seither sein Leben.

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Judith Zander – Dinge, die wir heute sagten

Bresekow ist „das Zentrum des Nichts”, ein „hässliches Endlein der Welt”, und nach den Wirren der Wende gerät das Dorf nur noch weiter ins Abseits. Autorin Judith Zander, Jahrgang 1980 und die Jüngste in dieser Runde, lässt in ihrem kunstvollen Romandebüt „Dinge, die wir heute sagten” (dtv, 480 S., 16,90 €) einen Provinzchor erklingen, der von den Beatles ebenso beeinflusst wird wie vom Klang der Wellen. „However. Was für ein Wort. Es ist großzügig, niemand hier kennt es, aber es klingt wie die Wellen, wenn sie gemächlich sich dem Strand überlassen, die ganze Ostsee singt beständig how­ever, however.” Eine Frau geht und kehrt heim, ein Kind wird nicht gewollt, eine große Liebe ist: unglücklich. Aus vielen Perspektiven erzählt Judith Zander, teils im Dialekt, von nordostdeutschem Eigensinn. Preis hin oder her: Den Namen dieser Autorin sollte man sich merken.

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