Bochum. .

Bei der Century-Of-Song-Gala „Pisman Degilim“ zeigte sich die türkische Kulturhauptstadt Istanbul so westlich, dass sich eigentlich jede weitere Diskussion über Integration verbietet. Nur getanzt wurde in der Jahrhunderthalle erst ganz zum Schluss.

n den vergangenen Wochen ist ja so viel krudes Zeug über das Miteinander von Türken und Deutschen gesarrazint worden, dass mancher sich bereits im Integrantenstadl wähnte. Und dann kommt ein Abend wie dieser, „Pisman degilim – Ich bereue nichts“ genannt, der ganz selbstverständlich vom Funktionieren einer multikulturellen Gesellschaft zeugt – nur ganz anders, als erwartet. Der erste Abend dieser zweiteiligen, von Alexander Hacke für die Reihe „Century Of Song“ konzipierten Gala, führte in Bochums Jahrhunderthalle nämlich die Kultur Istanbuls vor, die unglaublich viele westliche Elemente aufgesogen hat, so dass sie aus jedem anderen Land Europas stammen könnte. Und das, ohne ihre Wurzeln zu leugnen.

Die Verschmelzung der Kulturen hat eben längst stattgefunden, nur noch nicht in den Köpfen mancher Politiker und Ex-Bundesbanker. Und vielleicht auch nicht so, wie sie es sich gewünscht hätten. Nehmen wir das Trio Proudpilot, das mit bassgetriebenen Melodien und den psychedelisch flimmernden Keyboards eine drohende „Wall Of Sound“ errichtet und trotz türkischen Gesangs mehr an Sonic Youth und andere New Yorker Untergrund-Bands erinnert als an einen Import aus der Stadt der Zwiebeltürme.

Obskures Filmwerk mit Trash-Charakter

Dass die Integration westlichen Kulturguts schon lange stattgefunden hat, demonstriert Alexander Hacke mit seinem Bandkollegen N.U. Unruh, beide Teil der Einstürzenden Neubauten. Sie haben sich Khan Of Finland hinzugeholt, um den einzigen nicht ausschließlich türkischen Musikbeitrag des Abends zu leisten. Und doch zeigen sie damit, dass westliches Kulturgut nicht erst vorgestern in der Türkei angekommen ist. Sie haben gemeinsam einen neuen Soundtrack für den türkischen Trash-Kultfilm „Kilink Instanbul’da“ geschrieben. Das ist ein obskures Machwerk von 1967, das sich unter Türken gerade wegen der dilettantischen Machart großer Beliebtheit erfreut. In dem Schwarzweiß-Streifen geht es um den Superschurken Kilink, der in einem halloweenhaften Skelettkostüm die Weltherrschaft anstrebt. Was ihm fehlt, ist eine Formel. Um die zu bekommen, schreckt er vor Mord nicht zurück. Sein Gegner: der unbescholtene Orhan, der zu einer schlechten Kopie von Superman mit Batman-Maske mutiert. Am Rand: spärlich bekleidete Blondinen, kraushaarige Professoren. So weit, so westlich.

Das dachte sich auch der Regisseur, der als Filmmusik ganz bequem den Sound von James Bonds „You Only Live Twice“ darunterlegte. Ein Frevel, den Alexander Hacke in Bochum sühnte. Und so erleben die Zuschauer in der Jahrhunderthalle die Weltpremiere eines Soundtracks, der den Einstürzenden Neubauten würdig ist und von den drei Musikern in schwarzen Ganzkörperanzügen inklusive Skimasken vorgeführt wird – bizarr und angemessen.

Als ob man Sido aufs Bayreuther Festspielpublikum losgelassen hätte

Die größte Barriere übrigens, die es an diesem Abend zu überwinden gilt, ist die zwischen Hoch- und Subkultur. Denn wenn das Triennale-Publikum auf Straßenhelden der türkischen Metropole trifft, dann tobt die alte, kühle Industriehalle eben nicht, anders als ein frischer, verschwitzter Hip-Hop-Club am Bosporus. Das dürfte auch Rapperin Ayben bemerkt haben, die sich mit ihren Beats gefühlt haben muss wie Sido, wenn man ihn aufs Bayreuther Festspielpublikum losließe. Interessierte Blicke, anerkennendes Klatschen, reglose Hinterteile. Das ist die Rapperin, die daheim gemeinsam mit ihrem Bruder Ceza einen Status genießt wie bei uns die Fantastischen Vier, nicht gewohnt. Zumal sie einen gewissen Bekanntheitsgrad durch ihre Beteiligung an Fatih Akins Film „Crossing The Bridge“ genießen sollte.

Nein, um auch Hinterteile zu bewegen, musste Baba Zula kommen. Ebenfalls bekannt aus Akins Film, mühte sich das Trio, mit türkischen Rhythmen, mit psychedelischen Saz-Akkorden und mit Bauchtänzerinnen, das Publikum von den Sitzen zu holen. Das änderte sich erst, als sich Saz-Zupfer Murat Ertel mit einer Bauchtänzerin auf einen Rollwagen stellte, um darauf das Publikum zu umrunden. Immerhin die Hälfte der Zuschauer stand auf und merkte, dass man sich zum Sound von Baba Zula exzellent bewegen kann.

Was nach viereinhalb Stunden Programm zu einer weiteren, schönen Schlussfolgerung über das Verhältnis von Deutschen und Türken führt: Integration ist dann am schönsten, wenn man dazu tanzen kann.