Essen. .
Die Hälfte der Kulturhauptstadt-Aktivitäten ist Geschichte. Neben der Bilderbuch-Bilanz der Organisatoren gibt es in Medienberichten im In- und Ausland durchaus auch kritische Betrachtungen über die Region.
Die Hälfte der Kulturhauptstadt-Aktivitäten ist Geschichte. Grund für die Organisatoren, eine Bilderbuch-Bilanz zu ziehen. In den 31500 bisher registrierten Medienberichten im In- und Ausland sind - abseits von PR-Texten der Ruhr.2010 - durchaus auch kritische Betrachtungen über die Region und ihren Versuch zu finden, sich auf kulturellen Pfaden einen Weg in die Zukunft zu bahnen. Hier eine Presseschau mit einigen Außenansichten auf das Ruhrgebiet, die in den vergangenen Wochen erschienen sind.
Klarer Fall von Projektitis
Für „Die Zeit“ ist die Kulturhauptstadt Ruhr ein „Klarer Fall von Projektitis“. Autor Christoph Siemes versucht in seiner Halbzeitbilanz zum Kulturhauptstadtjahr, „durch 5000 Termine eine Schneise zu schlagen“. Er unternimmt auch den aufschlussreichen Versuch, eine typische Kulturhauptstadt-Idee zu beschreiben. Danach ist sie:
„Interaktiv, vernetzt, sozial engagiert, nah bei den Menschen – und wahnsinnig verkopft. Unter der Geschäftsführung von Fritz Pleitgen, dem Ex-WDR-Intendanten, und Oliver Scheytt, dem früheren Essener Kulturdezernenten, hat Ruhr.2010 einen starken Drang zum Überbau. Unter dem Hauptmotto ,Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel’ wuchert ein komplizierter Stammbau aus ,Arealen’, ,Leitthemen’ und ,Programmfeldern’, von ,Mythos Ruhr begreifen’ bis zu ,Europa gestalten’ – ein klarer Fall von Übermottovation.
Aus Angst, als Event-Heinis beschimpft zu werden oder eine der 53 beteiligten Kommunen vor den Kopf zu stoßen, fehlt dem Programm beinahe jede Hierarchie; gleichberechtigt steht der Kochkurs neben Opernaufführung, Kinderzirkus und Symposium. Mit einer Dosis Superlativitis wird alles aufgeschäumt, vom ,Day of Song’ mit seinen 55000 Sängern in der Arena auf Schalke, dem ,größten mehrstimmigen Chorkonzert der deutschen Musikgeschichte’, bis zur Aktion ,Schachtzeichen’, bei der an 300 ehemaligen Zechenanlagen ein knallgelber Luftballon gehisst wurde. Das könne man sogar aus dem Weltall sehen, sagte Pleitgen. Aber leider nicht von der Parallelstraße aus, wie stichprobenartige Kontrollen ergaben, doch was soll’s, alles super und gleich viel wert – und damit auch gleich wenig.“
Der Pott und sein Kabarett
„Es ist ein Land voller Zauber und Poesie, wo man Gesichter ,Fressen’ nennt. Das Land der Autobahnen, der frechen Balgen und der witzigen Typen, die nicht auf den Mund gefallen sind. Im Ruhrgebiet ist man rotzfrech und gleichzeitig sentimental, Fußball ist dort mehr als ein Sport und die Luft ist schon längst wieder sauber, obwohl es auswärts immer noch niemand glauben will. Das Ruhrgebiet ist ein Schmelztiegel der eigenwilligen Komik, der lockeren Sprache und der ironischen Nabelschau. So hat das Ruhrgebiet vom Comedy-Act bis zum satirischen Rocktheater alles zu bieten.“
Auf dem Weg zum Kulturhauptslum
„Die ersten Neubauten sind eröffnet, die ersten Projekte gestartet. Parallel jedoch ist die Region in eine schwere Finanzkrise gestürzt. Fast alle Städte des Ruhrgebietes arbeiten mit Nothaushalten, manche sind sogar überschuldet. Die Kämmerer und Bürgermeister haben harte Sparmaßnahmen angekündigt, die auch die Kultur heftig treffen könnten. Das Ruhrgebiet ist zerrissen zwischen Aufbruch und Abbau...
Die Finanzkrise hält die Region im Würgegriff. Überall droht die Schließung von Bädern, Bibliotheken, Schulen, Kindergärten und Theatern. Vielerorts werden die Winterschäden an den Straßen nicht mehr repariert, stattdessen stellt man Schilder auf: Geschwindigkeitsbegrenzung 30 Stundenkilometer. Die Region ist auf dem Weg zum Kulturhauptslum.
Was bringt es noch, Ballons über den Schachtanlagen schweben zu lassen und die Autobahn A 40 für ein großes Bürgerfest zu sperren, wenn gleichzeitig die kommunale Kultur am Ende ist? Die Kulturhauptstadt hat sich Nachhaltigkeit auf die Fahnen geschrieben, sie will den Strukturwandel anfeuern. Nun sollte sie eine Vision für die Region entwickeln, wie eine Kulturlandschaft der Zukunft aussehen soll...“
Der Pott im Kopf
„Wie das schon klingt. Der Pott. Das Revier. Da sieht man Schlote qualmen, grellgelben Stahl fließen, hört Schmiedehämmer dröhnen. So weit die Vorstellungswelt, der Pott im Kopf. Immer noch. Auch wenn die Tage der Schwerindustrie Jahrzehnte zurückliegen... An die Stelle einer zum Himmel stinkenden Produktivität ist längst die klinisch saubere Effizienz von Hightech und Dienstleistungen, von Technologie- und Gründerzentren, von Universitäten und zahllosen anderen Forschungseinrichtungen getreten.
Eines freilich lässt sich nicht leugnen: Unter den Gelsenkirchenern und Bochumern, den Mülheimern, den Oberhausenern und all den anderen ,Ruhris’ sind noch immer zwölf Prozent arbeitslos, und die wird auch nicht trösten können, dass sie ihr Übermaß an freier Zeit, nach langen Jahrzehnten voller Arbeit, aber auch voll Gestank und Umweltdreck, jetzt bei reinster Luft in ungetrübtem Sonnenlicht totschlagen dürfen. Doch wie viel zählt ihre Sorge, wo über allem die Erleichterung schwebt, dass es nicht noch viel schlimmer gekommen ist. Schon gar in diesen Tagen, im EU-Kulturhauptstadtjahr, das heuer erstmals nicht nur Einzelstädten (Pécs, Istanbul), sondern eben auch einer ganzen Region gilt: ,Ruhr.2010’ – so kapital, wie keine Kapitale wäre. Kulturhauptstadt? Von wegen. Kulturweltmetropole, mindestens!
In ihrem Mittelpunkt, was sonst?, ein Stück ,Weltkulturerbe’: die Zeche Zollverein. Und auch wer nicht allzu viel von den Segnungen der allmächtigen Unesco-Weltmaschine hält, die Land und Leute immer schneller und immer dichter mit ihren Welterbe-Etiketten zuklebt, hier wird er konzedieren müssen: Nichts weniger als ein Stück Welt, ein Stück Kultur, ja ein Stück Weltkultur, wohl wert, es zu vererben, erhebt sich da zwischen Abraumhalden aus dem nordöstlichen Eck von Essen. Ein Stück Welt der Industrie von gestern, die als ein Stück Kultur von heute in einem Morgen weiterleben soll.“ (wilb)