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Der neue Tolkien erfreut eher Wagnerianer als Hobbitfreunde: Altnordische Lieder gehen an die Wurzeln unserer Mythologie. „Die Legende von Sigurd und Gudrún“.

Wir waren dort, bei der Schlacht von Helms Klamm. Wir zitterten vor den Toren von Mordor und sahen zu, wie Frodo den Ring ins Feuer des Schicksalsbergs warf. Auch wenn „Der Herr der Ringe“ heute getrost als ein Grundstein der Fantasy-Literatur gesehen wird, ganz so sprießend war die Fantasie seines Verfassers wohl nicht.

Allerdings war er ungeheuer kenntnisreich. Denn vieles, aus dem John Ronald Reuel Tolkien seine modernen Mythen schöpfte, wurzelt in dem, woran er arbeitete: an alten Sagen und Mythen.

Tolkien war nicht nur Professor für Angelsächsisch in Oxford, er lehrte dort viele Jahre auch Altnordisch. So ist auch die gerade erschienene „Legende von Sigurd und Gudrún“ keineswegs das verschollene Tolkien-Abenteuer, das sich viele Fans herbeigesehnt hätten, sondern eine Übertragung zweier altnordischer Lieder aus der „Älteren Edda“. Erstaunlich nur, dass vielen die Geschichten um Hobbit Frodo und Zauberer Gandalf vertrauter erscheinen als jene, die unserer eigenen, nordeuropäischen Mythologie entspringen.

Es geht um Gold und Intrigen, um Macht und Schlacht

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Von DerWesten

Obwohl das so ganz nicht stimmt. Denn „Das neue Wölsungenlied“ und „Das neue Gudrunlied“ dienten Richard Wagner als Inspirationsquell für seinen „Ring des Nibelungen“. Nur schuf dieser ein neues, unabhängiges Kunstwerk, weshalb Tolkiens Sohn Christopher als Herausgeber des aktuellen Bandes nicht ausführlicher auf diesen interessanten Aspekt eingeht.

Was erwartet also den Leser? Zweimal 180 Seiten Versdichtung, einmal in Tolkiens Übertragung ins Englische, das andere Mal in der vorbildlichen deutschen Übertragung von Hans-Ulrich Möhring. Es führt vom nordischen Schöpfungsmythos über die Geschichte von Sigurd, der den Drachen Fafnir tötet, seinem Betrug an Brynhild zu seinem Tod durch eben ihre Ränke. Sigurds Witwe Gudrun wiederum wird gegen ihren Willen mit Atli vermählt, hinter dem sich niemand anders verbirgt als Attila, der Hunnenkönig, dessen Untergang durch die Ehe besiegelt wird.

All dies ist zwar spannend, schließlich geht es um Gold und Intrigen, um Macht und Schlacht und Königreiche. Aber es ist eben keine Bettlektüre. Zumal Christopher Tolkien den Übersetzungen seines Vaters ausführliche Erläuterungen zur Seite stellt.

Verwandtschaft zu anderen Sagen, wie dem Beowulf-Epos

Ihm geht es darum, die offenen Stellen, die offensichtlichen Widersprüche und unerwarteten Verknappungen zu erklären. „Die altnordische Dichtung strebt danach, eine Situation zu erfassen, einen Schlag zu führen, den man sich merkt, einen Moment blitzartig zu beleuchten.“ So beschreibt das Wölsungenlied die Tötung Fafnirs vom Erscheinen des Drachen („Hervor kam Fáfnir, Feuer schnaubend, den Berg hinunter, blies er Giftdunst“) bis zu Sigurds Blutbad („Schwarzes Blut schoss, überschüttete Sigurd“) in nur 28 Versen. Das ist, nach heutigen dramaturgischen Maßstäben, durchaus ausbaufähig – Wagner hat’s vorgemacht. Andererseits verliert die Saga noch viele Zeilen, bevor Fafnirs Herz verspeist wird.

Dem Übersetzer Hans-Ulrich Möhring gelingt ein Heldenstück: die Sprachgewalt zu erhalten, ohne die Sprachmelodie zu stören oder die Geschichte zu entstellen.

Dem Wagnerianer wird beim Lesen der Verse wohl das Herz aufgehen, doch auch dem Hobbitianer lugt an vielen Stellen Bekanntes aus dem „Herrn der Ringe“ entgegen. Etwa, dass Schwarzelben und Zwerge identisch sind.

Interessanter noch: Sowohl Tolkien Vater und Sohn zeigen die Verwandtschaft zu anderen Sagen, etwa dem „Beowulf“-Epos auf. Und sie erläutern, wie die Sagen in der nordeuropäischen Geschichte verankert sind. So erfahren wir alles zu den Burgundern, die ja nichts anderes als die Nibelungen sind, und aus den Quellen, die es über Attila gibt. Eines ist eben mit dem anderen verwoben – und dazu braucht es nicht einmal Fantasie.