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Katharina Hacker erinnert in ihrer Novelle „Die Erbeeren von Antons Mutter“ an das Vergessen. Die Autorin erzählt von Menschen, die aus dem Alltag gefallen sind, die keinen inneren Halt mehr finden.
Die Erdbeeren von Antons Mutter wachsen auf einem Acker unweit ihres Hauses in Calberlah, jedes Jahr kocht sie Marmelade daraus und verschickt sie: an ihren Sohn Anton in Berlin, an ihre Tochter Caroline in den USA, als Erinnerung an familiäre Wurzeln. In diesem Jahr aber vergaß sie, Erdbeeren zu pflanzen. Und deshalb steht Sohn Anton auf dem Feld, mit kleinen Sträuchern in Plastiktöpfchen. Steht vor der Frage: „Ob es richtig war, mit einer Lüge jemanden zu trösten oder glücklich machen zu wollen?” Er setzt die Erdbeeren. In der Hoffnung, seine Mutter vergäße ihre Vergesslichkeit.
Hacker erzählt von Menschen, die aus dem Alltag gefallen
Erinnern wir uns (was bisher geschah): Anton kennen wir bereits aus Katharina Hackers Roman „Alix, Anton und die anderen” um vier kinderlose, karrieregeknickte Mittvierziger in Berlin. Die nun erschienene Novelle schließt daran an. Nun also ist Anton verliebt in Lydia; diese hat eine Tochter, Rachel, von einem Mann namens Rüdiger. Der war einst Fremdenlegionär; er und sein ehemaliger Mitsoldat Martin halfen Lydia aus der Alkoholsucht. Seither verfolgt Martin Lydia, die er noch weniger aus dem Kopf bekommt als seine traumatischen Nahkampferfahrungen. Am Ende steht Martin, das Hirn voll mit Vergangenem, auf dem Erdbeerfeld vor Antons Mutter, die an nichts mehr denkt. Auch nicht daran, die Erdbeeren vor Schnecken zu schützen.
Katharina Hacker erzählt von Menschen, die aus dem Alltag gefallen sind, die keinen inneren Halt mehr finden und daher den Unwahrscheinlichkeiten des Lebens ausgeliefert sind. Das Vergessen ist da nur ein weiterer Aspekt ihrer Entwurzelung. Erinnern wir uns (was bisher geschrieben wurde): von Urs Widmers „Paradies des Vergessens” und Martin Suters „Small World” über US-Jungstars (Stefan Merrill Block) oder Krimi-Altmeister (Henning Mankell) bis hin zur Bestsellerin Katharina Hagena. Die jüngere Literatur hat sich bewahrend, festhaltend, einer Volkskrankheit entgegengestemmt. Einem Leiden, vor dem alle gleich sind - selbst Walter Jens und Iris Murdoch, deren Angehörige ihr Schicksal schilderten.
Nichts wird verdeckt
Die Schriftsteller haben Innensichten simuliert, die Angehörige trösten können. Haben den Menschen beschrieben als Summe seiner Erinnerung. Haben Metaphern gefunden für das Verschwinden. „Es schneit in meinem Kopf”, so heißt eine Anthologie, in der Autoren wie Peter Stamm, Judith Kuckart, Arno Geiger, Ulrike Draesner an das Vergessen erinnern. Wie Schnee fiel auch in Katharina Hagenas Roman „Der Geschmack von Apfelkernen” eine unnatürliche, sommerliche Apfelblüte im Garten der Großmutter herab.
Bei Katharina Hacker aber fällt kein Schnee von gestern, wird nichts gnädig verdeckt; hier zeigt sich die brutale, eigensinnige Qualität der Autorin. „Ihre Gedanken glitten nicht ab, sie stolperten nicht, es war eher, als berührte sie etwas, das nachgab und sich dabei auflöste”, beschreibt Hacker das Leiden von Antons Mutter: „Die Berührung war unangenehm wie die mit einer faulen Stelle an einem Apfel, der makellos aussah.” Ein Satz, der in Erinnerung bleibt.