Essen. .
Kurzgeschichten und Erzählungen standen lange im Ruf, Fingerübungen zu sein, kurzatmige Gehversuche junger Literaten oder das beredte Warten auf den großen Wurf. Jedenfalls nichts, worum Verlage und Leser sich reißen würden. In diesem Frühjahr aber entdecken deutschsprachige Autorinnen (seltener: Autoren) das kleine Schwarz-Weiße als neue Gala-Garderobe. Drei Beispiele.
Rührend ungerührt
Eine Schaffnerin, erschöpft, verwirrt, wacht im ICE-Sitz auf neben einer Frau, sie sinkt an ihre Schulter und wünscht sich, „dass sie mich hält... und mir über das Gesicht streichelt”. Eine Tochter trauert um ihre Mutter, sie sitzt in einem Café, fühlt sich beobachtet von einer Frau, „sie könnte zu mir herüberkommen. Sie könnte beide Hände um mein Gesicht legen”. Eine Urlauberin geht zur Kosmetikerin in der Singapur Paradise Shopping Mall, was sie will? „Ach, sage ich, das Gesicht vielleicht.” Die vierte Geschichte der Serie lässt das Gesicht der Mutter „platzen”, im wahrsten Sinne, „etwas ganz innen zerbarst, ein Blutgefäß, eine Ader”. Dies ist der furiose erste Teil in Annette Pehnts erstem Erzählband, ein Geflecht von Situationen, die aus der Bahn laufen, in denen Gesichtszüge entgleisen.
In ihrer ureigenen, bestechend spröden Sprache erzählt Pehnt auch im zweiten Teil, vom Alltag im Heim für behinderte Kinder und den ersten Lebensjahren eines schmächtigen Jungen namens Georg. Enttäuschungen aller Art werden erneut genau geschildert, so ungerührt, trocken, dass uns gerührte, nasse Tränen aufsteigen, doch wie sollen wir die enttäuschten Kinder und die enttäuschten Frauen zusammenbringen? Fast wünschte man, dies wunderbare Buch - wären zwei. (hei)
Annette Pehnt: Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern. Erzählungen. Piper. 186 Seiten. 16,95 Euro.
Kleiner Zynismus
Am Anfang stehen 15 fabelhafte Zeilen – „Mal sehen, ob die Wälder wieder brennen, ob sich Wassermassen gegen Brücken stemmen“. Doch abgesehen von diesen 15 poetisch knappen, wirklich luziden Zeilen, die mit bösem Witz die unerschütterliche Konsumhaltung des modernen Welt- und Netzbürgers persiflieren, ist dies das überflüssigste, langweiligste, ärgerlichste Buch, das seit langem auf den Markt gekommen ist. Und es kommt viel auf den Markt.
Es geht um Katastrophen aller Art, um den katastrophalen Umgang mit ihnen. Gut: Dazu wäre allerhand zu sagen. Aber doch nicht so – besserwisserisches Theoriegeschwafel, fast immer in atemlos indirekter Rede; das hechelt durch verknorpelte Sätze voller sei und käme und könne und dürfe. Furchtbar.
Dabei ist das Anliegen, das hier so uninspiriert wie möglich ausgebreitet wird, höchst ambitioniert. Ja, wir haben uns angewöhnt, zuzusehen, unbeteiligt zu bleiben und unseren Senf dazu zu geben. Und ja, es sind ein paar Erkenntnisperlen in den sieben Erzähltexten vergraben; sie ruhen in Frieden, weil man längst eingeschlafen ist.
189 Seiten Gerede, um Gerede manifest zu machen – das sind 189 Seiten zu viel. Röggla will alles und erreicht nichts außer einem kleinen Zynismus, hilflos und unfroh. Schade um das Thema. (gun) Kathrin Röggla: die alarmbereiten. S.Fischer. 189 Seiten. 18,95 Euro.
Späte Vorstellung
Sie schaut zu.
Die Erzählerinnen in Hanna Lemkes Stories sind ja gar nicht immer die gleichen; sie sind mal gleich nach dem Abitur weg aus ihrer Heimatstadt, mal dageblieben; wohnen mal in WGs und mal allein; sind mal mit Männern zusammen, mal mit Frauen. Immer aber wirken sie unbeteiligt, wie das Kind am Rande des Spielplatzes. Nach der vierten, fünften Geschichte möchte man dieses Kind mal kräftig schütteln.
Weil dies aber Literatur ist, Kunst, stellen wir statt Schütteln die Absichtsfrage. Will diese junge Autorin, 1981 geboren und Absolventin des Literaturinstituts in Leipzig, uns provozieren? Ihre Sprache ist lakonisch, zuweilen ungenau, verschwommen. Sie erzählt von Beziehungen, Freundschaften, Begegnungen. Von der Krankheit der Nichtexistenz sind selbst Nebenfiguren befallen: „Er ist nie so richtig dabei”, heißt es über einen, ein anderer sagt: „Schon gut, es kann sich nie jemand an mich erinnern.” Eine Erzählerin durchquert einen dunklen Hof, erst hinter ihr schaltet sich der Bewegungsmelder an, „als wäre ich nur ein vorauseilender Schatten, und jemand Eigentliches käme erst hinter mir her.”
Erst in der letzten der 18 kurzen Geschichten verrät Lemke sich: als Erzähltalent, das uns sehr bewusst so schmerzlich hineinzieht in das Lebensgefühl der Überflüssigkeit, des Danebenstehens. (hei)
Hanna Lemke: Gesichertes. Stories. Kunstmann. 192 Seiten. 17,90 Euro.