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Wie kommt es, dass Mütter heute so unsicher sind? Wieso boomen Elternkurse, wieso laden wir lesenderweise Pädagogen wie Bernhard Bueb und Michael Winterhoff in die Kinderzimmer? Doch nun formiert sich Widerstand: Mütter (rat-) schla­gen zurück. Die Bücher wollen „ehrlich” sein und erklären, „warum perfekte Eltern nerven”.

Sie sind Diplom-Biochemikerinnen oder Grafikdesignerinnen; sie tragen enge Jeans, hohe Absätze; sie sehen nicht aus wie Menschen, die sich etwas sagen lassen. In den vergangenen Doppelstunden aber saßen diese Frauen im Stuhlkreis um mich herum; wir warfen uns einen Stoffhasen zu und füllten einen „Selbstkenntnisfragebogen” aus. Diskutierten Werte, Partnerschaften sowie die Frage, ob Dreijährige sich die Jacke selbst anziehen müssen.

Wie kommt es, dass Mütter heute so unsicher sind? Wieso boomen Elternkurse, wieso laden wir lesenderweise Pädagogen wie Bernhard Bueb und Michael Winterhoff in die Kinderzimmer?

„Wer an sich zweifelt, ist feinfühlig”, schreiben die Autoren des aktuellen Ratgebers „Die Eltern-Schule”. Ein Trost, aber es geht weiter: Die wenigsten Mütter und Väter seien „pädagogische Naturtalente” – sondern dringend angewiesen auf Rat und Hilfe. Ein Satz wie eine Ohrfeige.

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Von DerWesten

Doch nun formiert sich Widerstand: Mütter (rat-) schla­gen zurück. Die Bücher heißen „Der alltägliche Erziehungswahn” oder „Kinderkacke”, sie wollen „ehrlich” sein und erklären, „warum perfekte Eltern nerven”. Mütter (und einige wenige Väter) berichten vom Alltags- und Beziehungsstress, den sie lösen mit Humor und gesundem Menschenverstand. Und unter Verzicht auf jegliche Expertenmeinung. Die Lektüre wirkt reinigend wie die Plauderei am Rande der Spielgruppe: Wenn es anderen auch so geht, ist der ganze Irrsinn wohl normal.

Die Autorin Gerlinde Unverzagt aber trifft man nicht bei pädagogisch motivierter Kinderbespaßung. Die vierfache, allein erziehende Mutter wehrt sich gegen Einmischung und fordert: „Eltern an die Macht!” „Glaubt man den vielen prominenten Pädagogikprofis, scheinen Eltern die einzigen zu sein, die keinen blassen Schimmer davon haben, was das Beste für ihr Kind ist.” Gegen Institutionen wie Kitas und Schulen wettert sie vehement – dort werde elterliche Arbeitskraft eingefordert, aber Mitsprache verweigert. Auch der Staat solle sich heraushalten: „Wie Kinder ernährt, geimpft, untersucht, erzogen, gefördert und gebildet werden, sind ureigene Entscheidungen von Eltern, die Verantwortung für ihre Kinder tragen.” Mitschuld an der steten Einmischung trügen „die Medien”, in denen Familie „beinahe ausschließlich im Zustand ihrer größtmöglichen Zerrüttung“ erscheine.

Am Anfang war das . . .

Der Rundumschlag ist polemisch – und ein Indiz. Für den Umschwung der Stimmung im Elternzeit-Land, für eine neue Qualität der Auseinandersetzung über Mütter, Kinder und Gesellschaft. Mütter berufen sich auf „Instinkte” und Bindungshormone, zitieren sogar die Hirnforschung: Die Entdeckung von Spiegelneuronen im menschlichen Gehirn erklärt, warum Mütter die Gefühle ihrer Säuglinge erahnen – und umgekehrt. Damit führen die so ganz und gar subjektiven Mütterbücher zu unserem Ursprung, an die Wiege der Menschheit.

Die Soziobiologin Sarah Blaffer Hrdy nämlich sieht im menschlichen Einfühlungsvermögen den größten Unterschied zwischen uns und „allen anderen Menschenaffen”. Wie und warum wurden wir empathisch? Die Antwort: durch die Notwendigkeit, Kinder gemeinschaftlich zu betreuen. In ihrem Sachbuch „Mütter und andere” geht es aber nicht um den Ausbau von Kitaplätzen, sondern darum, die Evolution mal aus Mamas Perspektive zu betrachten.

. . . Einfühlungsvermögen

Kenntnisreich berichtet Sarah Blaffer Hrdy von Affenpopulationen, fossilen Funden und Kinderaufzucht im Altpleistozän, vor 1,8 Millionen Jahren. Sie meint, dass damals schon Nachkommen „neben ihren Müttern von einer ganzen Reihe weiterer Individuen umsorgt und ernährt” wurden – weil Mütter begannen, Nachkommen zu gebären, „deren Aufzucht für sie allein zu kostspielig war”. Nämlich: pfiffige Knirpse mit immer größeren Gehirnen, die immer später eigenständig wurden. Diese mussten sich – um 500 Seiten Wissenschaft auf den Punkt zu bringen – bei der Gemeinschaft einschmeicheln, um zu überleben. Dazu brauchten sie Einfühlungsvermögen.

Survival of the Freundlichst, also. Wer keine liebevolle Gemeinschaft fand, starb. Und heute? Frau Hrdy vertritt die These, dass unsere Kindererziehung kein Instinkt ist, sondern geprägt durch eigene Erziehung. Sie glaubt, dass die „zentrifugalen Kräfte des modernen Lebens” unseren Gemeinschaftssinn verringern und fragt bang: „Verlernen wir die Kunst der Kinderfürsorge?” Sie fürchtet, Empathie könnte sich zurückbilden wie „das Sehvermögen bei höhlenbewohnenden Fischen”.

Nun dürfte die Degeneration wohl einige tausend Jahre dauern. Und: Solange über die „richtige” Erziehung derart heftig debattiert wird, solange wir Stuhlkreise bilden und Ratgeber lesen – ist die Aufzucht unserer Nachkommen wohl kaum von Gleichgültigkeit geprägt.