Essen. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung tagt in Essen. Ihr Präsident Ingo Schulze verrät, für welche Autoren die Region dankbar sein kann.

Vor 71 Jahren hat die damals noch junge Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die ihren Sitz in Darmstadt hat, zum ersten Mal in Essen getagt. Nun wird sie es wieder tun, vom 11. bis zum 14. April. Sie wird sich unter anderem mit der Literatur des Ruhrgebiets beschäftigen. Wir sprachen darüber mit dem aktuellen Akademie-Präsidenten Ingo Schulze.

Herr Schulze, zu DDR-Zeiten werden Sie aus dem Ruhrgebiet vielleicht am ehesten Max von der Grün wahrgenommen haben. Oder auch noch andere Autoren der „klassischen“ Ruhrgebietsliteratur?

Ingo Schulze: Ohje, ich muss eingestehen, es mir fest vorgenommen zu haben, Max von der Grün wenigstens jetzt zu lesen, er stand sogar in der recht guten Bibliothek des Hauses, in dem ich gewohnt habe, aber das habe ich noch nachzuholen. Die Bücher von ihm, die in meiner Bibliothek stehen, sind in Verlagen der DDR erschienen.

Aber wahrscheinlich nicht unter dem Label „Ruhrgebietsliteratur“, oder?

Eher nicht. Es ging ja doch eher um die Arbeitssituation an sich. Und das wäre ja auch im Sinne der Literatur. Ich weiß, dass ich damals Wallraffs „Ganz unten“ gelesen habe, das fand ich wichtig. Es gelingt ja wenigen, über die Arbeitswelt zu schreiben – und dabei ist es ja der Bereich, in dem wir wochentags beinah mehr „wache“ Zeit verbringen als zu Hause. Ich habe 1990 eben auch als eine große Abwertung derjenigen wahrgenommen, die auch körperlich arbeiten, die waren ganz schnell überflüssige Arbeitskräfte, weil es anderswo billigere gab. Und in TV-Serien oder Filmen, und leider auch in der Literatur, sind diejenigen, die körperlich hart arbeiten, so gut wie unsichtbar.

Ist es aus Ihrer Sicht überhaupt sinnvoll, Literatur nach Regionen zu kategorisieren? Ein Großteil der deutschen Gegenwartsliteratur wäre dann ja „Berlin-Literatur“.

Literatur sollte schon immer sehr konkret sein und sich aus der Erfahrung eines bestimmten Ortes zu einer bestimmten Zeit speisen. Und mitunter liest man ja auch, weil einen auch der Ort interessiert, der den Hintergrund abgibt oder gar zum Thema oder Stoff wird. Aber letztlich geht es ja darum, ob es Literatur wird, ob ich denke: Da ist etwas gefasst, das könnte ich anders nicht sagen als durch eine Erzählung, da ist auch von mir die Rede.

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Aber war es vielleicht für das Ruhrgebiet sinnvoll, solange es eine Dominanz von Kohle und Stahl und eine weitgehende Orchideenhaftigkeit von Literatur darin gab?

Das hat sich ja selbst beantwortet, ein Buch wie von Erik Reger „Union der festen Hand“ oder Hans Marchwitza „Sturm auf Essen“, letzteres ja eine Reportage, konnten nur aus dem Ruhrgebiet kommen. Eine Entdeckung war für mich Wolfgang Welt, das hat mich umgehauen, das ist auch Ruhrgebiet. Aber vor allem Literatur.

Ralf Rothmann nimmt mit seiner intensiven, subjektiven Art, über das Ruhrgebiet zu schreiben, eine Sonderstellung ein: Das Setting, die Kulissen, die Kämpfe und Konflikte sind noch die des Reviers aus Kohle und Stahl, aber das Literarische seiner Romane ist denkbar weit entfernt davon - assoziieren Sie Ralf Rothmann mit Ruhrgebietsliteratur?

Ich würde wohl nie diesen Begriff generell nicht verwenden, aber das Ruhrgebiet, insbesondere Oberhausen und Essen können ihm dankbar sein, solcherart in Literatur verwandelt worden zu sein. Mich fasziniert an Rothmann, wie er Situationen und Szenen schafft, die sehr genau sind und immer eine literarische Auflösung erfahren, eben etwas erzeugen, das ich als Leser zu kennen glaube und das mich anrührt. Er erschafft Figuren, die mich etwas angehen – und nebenbei erfahre ich viel übers Ruhrgebiet und damit auch über „Westdeutschland“, die Härte des Alltags, auch die Gewalt darin, die Angst vor der Prügelstrafe in der Schule …

Die Entwicklung der Literatur im Ruhrgebiet lässt sich in verschiedene Phasen einteilen: Da war die klassische Literatur der Arbeitswelt, es folgte eine Annäherung an das genuin Literarische von den Rändern her mit viel Krimis, Kleinkunst und Kinderbüchern – und jetzt schließlich sind wir in der Phase, in der Literatur aus dem Ruhrgebiet oft jung, weiblich und migrantisch ist: Haben Sie die in ihrem halben Jahr als Stipendiat im Revier wahrgenommen?

Außer dem Gespräch zwischen Ralf Rothmann und Nobert Wehr werden wir ja bei unserer Akademie-Tagung auch Lütfiye Güzel und Lina Atfah erleben. Lütfiye Güzel habe ich schon mal sehr überzeugend in Berlin erlebt. Lina Atfah war eine Empfehlung der Buchhandlung Proust.

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung tagte 1953, als sie noch sehr jung war, schon einmal in Essen. Damals hieß die Leitfrage: Was kann Literatur zur Deutung alltäglicher Lebensrealitäten und gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen? Daran wollen Sie nun wieder anknüpfen?

Diese Frage steht doch eigentlich immer. Und wer schreibt, vollzieht natürlich eine Deutung der Welt, ob bewusst oder unbewusst. Die Tagung 1953 in Essen – damals wider Willen in der Villa Hügel – war für die Akademie eine „Schicksalstagung“, sie stand vor einer Zerreißprobe, sie hätte sich damals auch auflösen können. Ich habe das Sitzungsprotokoll von damals gelesen und würde behaupten, in Essen hat sich die Akademie selbst am Schopfe gepackt und aus dem Sumpf gezogen und jenes Arbeitsprogramm auf den Weg gebracht, das heute noch gilt, vor allem die literarischen Wiederentdeckungen und die Sprachkommission, die beispielsweise die „Sprachberichte“ erarbeitet und auch mitunter den Sprachgebrauch kommentiert. In der Akademiegeschichte hat man überhaupt die geistige Geschichte des westlichen Landesteils unterm Vergrößerungsglas.