Essen. Der Schriftsteller gastierte als „Metropolenschreiber“ im Revier. In seinem neuen Buch berichtet er von einmaligen Erfahrungen.

Einst Malocher-Region, jetzt Metropole: stimmt das? Ingo Schulze, renommierter Autor und kritischer Zeitgenosse, weiß vielleicht eine Antwort. Mit Büchern über St. Petersburg („33 Augenblicke des Glücks“) oder über den Alltag in der Nachwende-DDR („Simple Storys“) hat er sich als literarischer Chronist gesellschaftlicher Umbrüche einen klangvollen Namen gemacht. Unlängst war der gebürtige Dresdner, der seit Jahrzehnten in Berlin lebt, auf ein halbes Jahr lang „Metropolenschreiber“ im Ruhrgebiet, und unter dem Titel „Zu Gast im Westen“ berichtet er nun davon.

„Metropolenschreiber“ Ruhrgebiet

Seit 2017 vergibt die Essener Brost Stiftung, die 2011 aus einer testamentarischen Verfügung der Essener Verlegerin Anneliese Brost hervorging und mit rund 300 Millionen Euro Einlagekapital startete, das großzügig dotierte Aufenthalts-Stipendium „Metropolenschreiber Ruhrgebiet“. Erste Amtsinhaberin war die Schriftstellerin Gila Lustiger, ihr folgte der Journalist Lucas Vogelsang, der Philosoph und Publizist Wolfram Eilenberger, der deutsch-argentinische Autor Ariel Magnus, die österreichische Schriftstellerin Raphaela Edelbauer und der Historiker Per Leo. Nach Ingo Schulze wurde zu Beginn dieses Jahres die feministische Philosophin Eva von Redecker Metropolenschreiberin.

Ein Buch, das die Frage nach der Metropole schnell vergessen lässt. Schulze ist zu Fuß, per Fahrrad und mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs und trifft Menschen, deren einzige Gemeinsamkeit ihr Leben im Einzugsbereich des Regionalverbands Ruhr ist. Passenderweise beginnt und endet das Buch mit der Schilderung ausgedehnter Fußwege: am Anfang die mühsame Suche nach Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe des luxuriösen Broicher Domizils in Mülheim, am Ende eine durch den Streik der örtlichen Verkehrsbetriebe erzwungene Wanderung vom Duisburger Zoo wiederum nach Broich.

Ingo Schulze in seiner Wohnung im Berliner Stadtteil Charlottenburg.
Ingo Schulze in seiner Wohnung im Berliner Stadtteil Charlottenburg. © picture alliance/dpa | Annette Riedl

Der Gedanke, das Ruhrgebiet über seine traditionellen Klischees verstehen zu wollen, wird schnell verworfen. Zwar gibt es Ausflüge in die Industriegeschichte (nach Rheinhausen und Ruhrort oder zur Villa Hügel), den Kern der Aufzeichnungen aber bilden Gespräche und Begegnungen ganz unterschiedlicher Art. Wir begleiten den Autor bei Besuchen in ungewöhnlichen Grundschulen, wir sind dabei, wenn er mit einem ehemaligen DDR-Flüchtling Fußballspiele in Dortmund und Schalke besucht oder mit dem frisch pensionierten Essener Polizeipräsidenten das Rot-Weiss-Stadion.

Er nimmt uns mit zur Orchesterprobe der Essener Philharmoniker und zur Besichtigung eines Emscher-Klärwerks. Wir hören uns die Lebensgeschichte eines Gelsenkirchener Klempner-Meisters an, fahren mit einem widerspenstigen (ehemaligen) Sozialdemokraten durch Dortmund, lernen untypische Buchhändler kennen und einen Kettwiger Kleinverleger, der uns gern Wilhelm von Kügelgen, einen Maler und Autor des 19. Jahrhunderts nahebringen möchte.

„Freude bei dem Gedanken, kein Tourist zu sein, sondern für einige Zeit dazuzugehören,“
empfindet Ingo Schulze, - der ein halbes Jahr lang „Metropolenschreiber“ im Ruhrgebiet war

Ob die im Buch oft sehr ausführlich porträtierten Menschen repräsentativ sind für das Ruhrgebiet, mag man diskutieren. Auf jeden Fall lässt Schulzes Vorgehensweise – im Unterschied zur inszenierten Industriekultur – nie die Gefahr einer Musealisierung der Region aufkommen. Er erkundet das Revier von den Rändern aus und spart brennende Probleme wie Clan-Kriminalität oder Zuwanderung aus Südosteuropa nicht aus. Zentrale Bedeutung hat für ihn das Unterwegs-Sein, auch wenn es durch die reviertypischen Strukturen des öffentlichen Nahverkehrs mitunter mühselig ist.

Bei seinen S-Bahn-Fahrten begreift Schulze, „dass im Ruhrgebiet die Integration von Zugewanderten eine lange Tradition hat“ – und empfindet „Freude bei dem Gedanken, kein Tourist zu sein, sondern für einige Zeit dazuzugehören“.

Ingo Schulzes Buch „Zu Gast im Westen“ ist stellenweise sehr privat

Das Buch ist stellenweise sehr privat. Es erhebt keinen literarischen Anspruch, Kunst entdeckt der Autor anderswo: etwa in den Gedichten der verstorbenen Wahl-Duisburgerin Barbara Köhler, die aus der ehemaligen Karl-Marx-Stadt Chemnitz hierherkam, oder in den Skulpturen von Markus Lüpertz auf dem Gelsenkirchener Vivawest-Turm und an der Duisburger Mündung der Ruhr in den Rhein.

Ingo Schulze als „Metropolenschreiber“ Ruhr bei einer Lesung im Moerser Schlosstheater.
Ingo Schulze als „Metropolenschreiber“ Ruhr bei einer Lesung im Moerser Schlosstheater. © FUNKE Foto Services | Rüdiger Bechhaus

Schulze selbst begnügt sich mit einem subjektiven Erfahrungsbericht, dessen Akzentsetzungen unausgewogen sein mögen, der aber in seiner Diffusität und Diversität die widersprüchliche Vielfalt der Region treffender abbildet als die Hochglanzbroschüren des Regionalverbandes. Nach der Lektüre verstehen auch Zugereiste noch ein bisschen besser, warum sie gerne hier leben.

„Metropolentraum und Provinzlust“

Ingo Schulze ist mit seinem Buch „Zu Gast im Westen“ zu Gast beim nächsten „Lesart“-Abend des DeutschlandfunksKultur unter dem Titel „Metropolentraum und Provinzlust“ im Essener Grillo-Theater am 12. März (Beginn: 20 Uhr, Karten: 8 € beim Theater oder in der Buchhandlung Proust). Hinzu kommen die Autoren Jens Schöne und Uta Bretschneider mit ihrem Buch „Provinzlust“ über Erotikshops in Ostdeutschland, das Mitte März im Ch.Links Verlag erscheint (224 S., 35 €). Sie sprechen über ihre Entdeckungen und Erfahrungen mit Christian Rabhansl und WAZ-Kulturchef Jens Dirksen.

Ingo Schulze: Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet. Wallstein Verlag, 344 S., 24 €.