Essen. Es gibt nationale Vorgaben für das Abiturfach Deutsch. Auf „Faust“ ist „Woyzeck“ gefolgt. Lehrer in NRW sehen die Norm teils skeptisch.
Wäre Tim aus Bottrop zwei Jahre eher geboren, rüstete er sich in diesen Wochen („Grau, treuer Freund, ist alle Theorie...“) mit Faust und Mephisto fürs Deutsch-Abi. Das würde er bundesweit teilen – mit Max aus Berchtesgaden und Lara aus Bautzen. Aber Goethe ist von gestern. Aktuell geht kein Weg an Büchner vorbei: „Woyzeck“.
Wer nicht weiß, dass jeweils ein Drama und ein Roman von der Kultusministerkonferenz (KMK) national als Abitur-relevant gesetzt ist, dem könnte die zeitgleiche Präsenz auf den Bühnen auffallen. Das Schauspielhaus Bochum, Essens Grillo-Theater, Mülheims Theater an der Ruhr, Dortmunds Schauspiel und das Theater Oberhausen – sie alle spielen (so eine Ballung ist sonst nie zu sehen) oder spielten zuletzt „Woyzeck“.
Kein Literatur-Kanon? Dennoch geben Bund und Länder Stoff fürs Abitur vor
Drei Jahre lang gibt die KMK ihn als Stoff vor, 2025 wird Büchners Drama eines Außenseiters, der zum Mörder wird, das letzte Mal Pflicht sein. Die Inszenierungen der Theater darf man durchaus als Service betrachten, Deutschkurse mit dem Live-Erlebnis zu versorgen. Aber die Bühnen selbst profitieren auch: durch kräftige Auslastungszahlen, wenn die Schülerinnen und Schüler geschlossen zur Vorstellung anrücken.
Ein Drama für alle?! Die KMK-Vorgabe will sich nicht als strenges Unterrichtskorsett von Aachen bis Zwickau verstehen. „Gemeinsame Bildungsstandards für Transparenz schulischer Anforderungen“, haben sich die Minister und Ministerinnen aller Bundesländer in zentralen Fächern auf die Fahnen geschrieben. Über Büchner und Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ (dessen Thema ist ein Überwachungsstaat) hinaus gibt es national im Fach Deutsch keine Empfehlung. Die Bundesländer geben „Kernlehrpläne“ vor. Arno Geigers Roman eines Wehrmachtssoldaten („Unter der Drachenwand“) zählt in NRW zu den Abi-Vorgaben 2024. Auf Anfrage erklärt das Ministerium, „dass die zentral vorgegebene Textauswahl nur einen Teil der von den Schülerinnen und Schülern insgesamt zu lesenden Texte ausmacht und nicht als Literaturkanon zu verstehen ist.“ Der Weg zum Erreichen der Lernergebnisse, so NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU), „liegt in der Verantwortung der Lehrkräfte vor Ort und damit in deren pädagogischer Freiheit“.
Die Freiheit scheint nicht ganz gering. Drei Buchhandlungen der Region (Essen, Gelsenkirchen, Duisburg) lassen uns für die Recherche in ihre Bestellordner blicken. Was lesen Schülerinnen und Schüler in Deutsch über die Standards Büchner, Seethaler („Der Trafikant“) und Geiger hinaus? Ganz weit oben, immer noch, Dürrenmatts Metapher über Gier und Rache: „Der Besuch der alten Dame“; Max Frischs „Andorra“ wird oft geordert. In der Sparte Gegenwartsliteratur steht sehr weit oben Wolfgang Herrndorfs „Tschick“.
Manche Lehrerinnen und Lehrer halten wenig von vorgegebenem Stoff für Deutsch: „Lotteriespiel“
Die Jüngeren steigen mit Steinhöfels „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ ein, Kästners „Die Konferenz der Tiere“ hat – wie dessen „Emil und die Detektive“ oder Preußlers „Krabat“ – immer noch nicht ausgedient. Und es gibt Schulen, die wissen, dass man manchmal heftig Klartext braucht: Auch Florian Buschendorffs „Ohne Handy – Voll am Arsch“ landete auf Pulten, in diesem Fall auf denen von Förderschülern. Das Buch erzählt von einem Experiment: Zwei Wochen ohne Mobiltelefone. Manche Schule verlässt im Fach Deutsch sogar die Landesliteratur: „Die Tribute von Panem“ von US-Autorin Suzanne Collins werden inzwischen nicht allein im Englischunterricht gelesen. Ganze Klassensätze auf Deutsch werden geordert, versichert uns eine Buchhändlerin.
Kurios: In Deutsch kommt sogar US-Literatur dran: „Die Tribute von Panem“
Gerade im Ruhrgebiet, sagt ein Dortmunder Schulleiter (62) unserer Zeitung, müsse man erst einmal eine Brücke „überhaupt zum Buch bauen. Da kann die KMK uns die schönsten Dramen und Romane empfehlen, die Unterrichtenden können nur noch sehr wenig voraussetzen. Was vor 30 Jahren im Deutschunterricht von der Ballade bis zum Drama relativ mühelos vermittelt werden konnte, ist heute fast ein Lotteriespiel.“ Ein Interview mit einer Gymnasiallehrerin aus Gelsenkirchen bestätigt seine Einschätzung.
So sind „Die Tribute von Panem“ möglicherweise auch ein Tribut ein bildungsferne Schichten. Dass die Kultusministerkonferenz auf dieser Ebene einlenkt, ist nicht zu erwarten. Immerhin ist der Nachfolger des „Woyzeck“ tatsächlich eine Komödie, bei der vor allem männliche Autorität am Ende in Scherben liegt: Ab 2026 wird auf dem Weg zum deutschen Abitur in ganz Deutschland Kleists „Zerbrochner Krug“ gelesen.