Essen. Bleibt Schauspielern die Stimme weg? Der Anteil der Technik auf der Bühne nimmt zu. Bis zu einem Viertel der Inszenierungen in NRW wird verstärkt.
Berliner Ensemble, ein deutsches Vorzeige-Theater, immer noch. Man spielt Thomas Bernhards „Theatermacher“. Und da fällt in diesem Stück einer der vielen bösen Sätze über den Zustand des Gewerbes: „In den berühmtesten Theatern von Deutschland wird heute gesprochen, dass einer Sau graust“. Blick auf die Bühne: Kein einziger Schauspieler, der nicht diese verräterische kleine rosa Warze an der Wange hat. Das ist ein Stück Technik, man nennt es Mikroport. Im Gesicht: ein Empfänger. Auf dem Rücken, unterm Kostüm, ein Sender. Die Stimme geht nicht mehr direkt in den Raum. Theater: eine Übertragung.
Ein technisches Hilfsmittel ist deutlich auf dem Vormarsch. Es gab Zeiten, da war die akustische Stütze die klare Ausnahme bei deutschen Theater-Schauspielern. Der Wechsel begann mit sehr großen, sehr ungewöhnlichen Aufführungsorten (wie etwa der Jahrhunderthalle Bochum) oder Freilichtbühnen: Da sah man die kleinen elektronischen Helfer an den Gesichtern, das Kabel in der Frisur verschwinden, von der aus die Strippe zum Sender im unteren Rücken führte. Man hörte es rascheln, wenn das Kostüm am Mikro rieb, und die Modelle der frühen Generation fielen auch gern mal aus. Das prosperierende Musical-Genre aber war dankbar für den Fortschritt. Denn anders als bei den Opernkollegen füllt dort kaum jemand aus eigener Kehlenkraft die Säle von „Cats“ oder „Phantom der Oper“.
Längst aber sind die Grenzen aufgeweicht. Shakespeare, Molière, Kleist: Sie brauchen mehr und mehr Verstärkung. Man darf fragen, warum. Einer wie Christian Redl (75, nicht nur der Krüger vom „Spreewaldkrimi“, mehr noch war er 50 Jahre lang auf den großen Bühnen der Republik zu Hause) erkennt jedenfalls keine gute Entwicklung. Gerade beim Nachwuchs sieht (und hört) er Defizite.
Immer mehr Mikrofone im Theater: in Bochum ein Fünftel, in Oberhausen ein Viertel der Inszenierungen
Warum soll der Einsatz sonst nötig sein? Größer sind die Theater jedenfalls nicht geworden, in denen heute mehr und mehr stimmlich nachgeholfen wird.
Wie oft? Aktuell stehen am Schauspielhaus Bochum 31 Stücke auf dem Spielplan, von denen in sechs Mikroports eingesetzt werden. Macht knapp 20 Prozent. Am Theater Oberhausen waren es in der letzten Spielzeit vier von 16 Produktionen, also 25 Prozent. Das sind stattliche Werte, und doch beteuern die Theaterleitungen beider Häuser auf Anfrage, der puren Stimmkraft unbedingt den Vorzug zu geben. Schauspielhaus-Intendant Johan Simons: „.Ich nutze nur selten Mikroports, weil ich die Live-Stimmen der Schauspielerinnen und Schauspieler so sehr liebe! Falls ich als Regisseur welche einsetze, geht es mir nie um eine Verstärkung der Stimmen, sondern immer um eine andere Form der Intimität.“
Mikroport - sensible Technik
Wie funktioniert die Verstärkung für Schauspieler, was kostet sie, was sind ihre Schwächen? Oliver Adamek von der Abteilung Ton des Theaters Oberhausen hat alle Antworten parat. „Etwa 1500 Euro pro Paket sind die Kosten. Das sind dann alle drei Teile, also Mikrofon, Taschensender und der Empfänger, der das Signal ans Tonsystem weitergibt.“
Wo passieren am ehesten Pannen? „Angeschminkte Mikros können im Spiel abgerissen werden oder der Stecker aus dem Empfänger kann sich lösen. Und Hautkontakt bei den kleinen Taschensender-Antennchen stört die Funkverbindung“, sagt Adamek.
Wo er und seine Kollegen keinen Einfluss haben: „Äußere Einflüsse!“ Jedes Gerät hat eine eigene Frequenz (also acht Schauspieler, acht individuelle Verbindungen). Aber: Diese Frequenzen werden zugeteilt. Und deren zur Verfügung stehende Bereiche werden immer kleiner. Ist also eine sehr ähnliche Frequenz in der Nähe des Theaters in Nutzung, liegt der Störfaktor nicht mehr in den Händen der Techniker.
Offenbar war sie in Simons‘ „Hamlet“ mit Star-Schauspielerin Sandra Hüller in der Titelrolle gefragt, auch hier, in einer seiner erfolgreichsten Inszenierungen, nutzte der Niederländer Mikroports. Kathrin Mädler, Intendantin in Oberhausen, nennt ihr Ensemble „bestens sprachlich ausgebildet, stimmstark und natürlich fähig zu großer, saalfüllender Präsenz“. Als Ausnahmen nennt sie: Familienstücke „mit einem lautstark begeisterungsfähigen Publikum“, „Produktionen mit Live-Instrumenten“ und – selten – als Mittel, „das Gefühl intimer Nähe zu den Figuren mit extrem privatem Ton“ zu erzeugen.
Christian Redl erinnert sich, dass früher auch bei Riesensälen oder Musik-Abenden die Darsteller selbst und ganz allein sie gefragt waren: „Ganz klar: Wir mussten in der Lage sein, jeden Theaterraum bis in den obersten Rang ganz aus eigener Kraft zu füllen. Er selbst hat dann den Wandel erlebt: „Irgendwann gab es in Inszenierungen Mikroports.“ Und auch er erkennt den Komfort an, den die Technik bietet: „Natürlich geben Sie einem eine große Sicherheit, jedes leise Wort wird ja sozusagen akustisch vergrößert. Andererseits ist es ein ganz anderer Effekt, wenn man ohne Verstärkung ,leise‘ auf der Bühne sprechen muss.“
Insgesamt spürte Redl, einst ausgebildet an der Schauspielschule Bochum, dass sich das Sprechen als selbstverständliche Technik beim Theater-Nachwuchs herauszuschleichen droht. „Texte so schlabbrig rauszuhauen, wird offenbar automatisch als Garant für tolle Natürlichkeit gesehen. Dabei ist es einfach nur unverständlich.“ Und er sieht: „Einem Teil der jungen Kollegen fehlt inzwischen die Fähigkeit, ohne technische Hilfe auf der Bühne durchzudringen.“ Auch Dozenten, die an deutschen Schauspielschulen als Sprecherzieher tätig sind, beobachten Veränderungen. An ihrem Auftrag, Studierende so zu rüsten, dass sie keine Verstärkung benötigen, halten die Hochschullehrer fest.
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Übrigens kam Redl in seiner langen Karriere zu einer Bombenrolle wegen des kleinen Unterschieds, auch ohne Hilfe groß bei Stimme zu sein. Es sollte nämlich der große Udo Lindenberg in den 1908er-Jahren am Deutschen Schauspielhaus Hamburg den Mackie Messer singen: „Denn der Haifisch, der hat Zähne“. Es ist mit 1200 Plätzen Deutschlands größtes Sprechtheater. Doch als Lindenberg erfuhr, dass er ohne Mikrofon den König der Londoner Ganoven geben sollte, platzte der Auftritt. Redl sprang ein, kam, sah, sang und siegte – ein Triumph ganz ohne Strom.