Düsseldorf. Wie sich Lou Strenger in Rollen verliebt und warum das neue Stück „Prima Facie“ in Düsseldorf für die Schauspielerin eine Grenzerfahrung ist.
Als sie den letzten Satz vollendet hat, springen die ersten auf. Bravorufe sind zu hören. Der Applaus rollt wie eine Welle zur Bühne, auf der Lou Strenger steht. 90 Minuten lang hat sie als Tessa Ensler den riesigen Saal des Düsseldorfer Schauspielhauses bespielt. Ganz allein, mit nichts als ein paar Stühlen als Kulisse. „Prima Facie“, Suzie Millers Justizdrama über sexuelle Gewalt, stemmt die 31-Jährige so beeindruckend intensiv, dass dieser Theaterabend lange nachhallt.
Von Berlin nach Düsseldorf zur Aufführung von „Prima Facie“
Drei Stunden vor ihrem Solo-Auftritt sitzt Lou Strenger blass und müde auf einem Sofa in der Theaterkantine und sagt sehr offen: „Ich habe im Moment keine Ahnung, wie ich das gleich schaffen soll.“ In den vergangenen drei Monaten hatte die Schauspielerin keinen Tag frei. Um halb vier ist sie am Morgen in ihrer Berliner Wohnung aufgestanden, weil es vor der Abfahrt nach Düsseldorf noch so viel zu erledigen gab. Dann sieben Stunden im Zug. Immer wieder geht sie auf der Fahrt ihren Text durch. Nach der Ankunft im Theater stellt sie den Koffer ab und startet durch zum Interview. Wir haben eine Stunde, bis sie in die Maske muss.
Da sitzt sie nun, ihre Hände im Schoß verschränkt, die Schultern nach vorn geneigt, so als wollte sie sich vor allzu persönlichen Fragen lieber wegducken. Lou Strenger steht nicht gerne im Mittelpunkt. „Es geht doch nicht um mich, sondern um die Rollen, die ich spiele.“ Privat ist sie, die in einer schwäbischen Kleinstadt aufgewachsen ist, zurückhaltend. „Eher introvertiert“, beschreibt sie sich selbst. Vor ihren Auftritten ist sie jedes Mal immer noch „furchtbar aufgeregt“.
Als die Scheinwerfer an diesem Abend im Großen Haus angehen, legt sich irgendwo in ihrem Inneren ein Schalter um. Die Nervosität verpufft, die verloren geglaubte Kraft strömt durch den Körper. Adrenalin! Der Text wird plötzlich spürbar für sie, die Worte verschmelzen mit den Gesten und Bewegungen, die sie einstudiert hat. Lou Strenger schwimmt sich mit Kopf und Herz auf der Bühne frei und taucht so tief in ihre Rolle ein, dass sie alles andere ausblendet. Als in der Mitte des Stücks Wasser vom Bühnenhimmel auf das von ihr gespielte Vergewaltigungsopfer herab prasselt und sie völlig durchnässt weiterspielen muss, nimmt sie das kaum wahr. „Ich spüre erst hinterher, wie kalt mir ist.“
Lou Strenger im Schauspielhaus Düsseldorf: Der Sandmann, Alice und Cabaret
So gewaltig wie in dieser Inszenierung hat man Lou Strenger als Theaterschauspielerin noch nicht gesehen. Das Düsseldorfer Publikum kennt sie unter anderem als Clara in Robert Wilsons „Der Sandmann“, als Alice im Musiktheater von André Kaczmarczyk und aktuell vor allem als Nachtclubsängerin Sally Bowles im Erfolgsstück „Cabaret“. In all diesen Rollen wird sie auch als Sängerin geschätzt. Die 31-Jährige hat eine berührende Stimme und sie liebt es, Emotionen mit der Magie der Musik zu erzeugen. „Prima Facie„ ist anders für sie. Nicht nur, weil sie nicht singt. Das von Philipp Rosendahl inszenierte Stück, bei dem alle Augen nur auf sie gerichtet sind, ist eine Grenzerfahrung: „Das verlangt mir wahnsinnig viel ab.“
Trotz aller privaten Bescheidenheit: Schauspielerin zu sein, ist ihr Traumjob. Drei Jahre alt war Lou Strenger, als sie Ballett lernte und auf der Bühne einen Zaubervogel spielte. Das wird sie nie vergessen, denn es war der Moment, in dem sie zum ersten Mal eine unbeschreibliche Anziehungskraft spürte. „Ich wusste einfach sofort, dass ich genau das machen muss, um glücklich zu sein.“
Heimlich ging Lou Strenger kurz vor dem Abi zum Vorsprechen
Die Eltern hatten allerdings andere Pläne. Handfeste Berufe sollten ihre drei Töchter lernen. Eine Karriere als Schauspielerin zählte dazu nicht. Für Lou, die Exotin der Familie, war das keine Option. Sie musste raus aus der Enge der Kleinstadt. Heimlich ging sie kurz vor dem Abi zum Vorsprechen — und wurde an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig angenommen. „Nichts anderes hat sich für mich jemals so richtig angefühlt.“
Das ist noch immer so. Eine neue Rolle zu lernen, ist für sie wie verlieben. „Jede Probe ist wie ein Date“, sagt sie. „Man lernt den anderen, in dem Fall die Rolle, immer besser kennen und wenn es passt, wird es näher und intensiver.“ Neben dem Theater, ihrer ersten großen Flamme, brennen aber auch andere Leidenschaften. Sie spricht in Hörspielen und spielt immer öfter in Filmen. Als Helene Weigel im Brecht-Film mit Tom Schilling war sie 2019 zum ersten Mal Teil der Berlinale, für ihre Rolle in „Seid einfach wie ihr seid“ wurde sie 2023 als „Bester Schauspielernachwuchs“ nominiert und „Höllgrund“ bescherte ihr kürzlich die erste Hauptrolle in einer TV-Serie.
Lou Strenger braucht diese Vielfalt. Sie genießt es, dass sie in mehreren Genres zuhause sein kann. „Ich bin ein rastloser Mensch.“ Deshalb hat sie vor vier Jahren den festen Platz im Düsseldorfer Ensemble aufgegeben. Heute hier, morgen dort. Das ist momentan ihr Ding. Sie träumt davon, auch außerhalb von Deutschland als Filmschauspielerin zu arbeiten. „Ich habe eine so unfassbare Affinität zu England.“ Früher hat es ihr Angst gemacht, Wünsche wie diese auszusprechen. Aus Sorge, dass sie nicht in Erfüllung gehen. Aber dann hat sie erlebt, was möglich ist, wenn man etwas wagt. Jetzt vertraut sie darauf, dass alles so kommt, wie es für sie richtig ist.
- Lou Strenger gehörte von 2016 bis 2019 zum festen Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses. 2018 wurde sie hier mit dem Publikumspreis „Gustaf“ ausgezeichnet.
- Für ihre Rollen in „Dreigroschenoper“, „Der Kaufmann von Venedig“, „Alice“ und „Cabaret“ nominierte das Fachmagazin „Theater Heute“ sie zur besten Nachwuchsschauspielerin.
- Die nächsten Termine für ihr Solo-Stück „Prima Facie“: 8./21. Januar, 21. Februar, 2./8. März. Karten und Informationen: www.dhaus.de, karten@dhaus.de, Tel. 0211/36 99 11.