Düsseldorf. „Alice“: Regisseur André Kaczmarczyk präsentiert im Düsseldorfer Schauspielhaus eine zweistündige Reise durch Lewis Carrolls buntes Wunderland.
Eine betörend schöne Aneignung des Kinderbuchklassikers „Alice im Wunderland“ reißt das Publikum im Düsseldorfer Schauspielhaus von den Sitzen. In dem schlicht „Alice“ betitelten Musiktheater jagt die kecke Heldin nicht nur dem sprechenden Kaninchen, sondern auch ihrem eigenen Schicksal hinterher – und wirkt dabei um einiges schlagkräftiger, als es sich Lewis Carroll in seiner zigfach kopierten Vorlage anno 1865 wohl ausmalte.
Alice, das war in Carrolls Phantasie eine viktorianische Maid, die beim Spielen im Garten durch Zufall in eine Zauberwelt stolperte. Seine Leidenschaft für kleine Mädchen, mit denen der Autor enge Beziehungen gepflegt haben soll, wäre heutzutage eines gehörigen Shitstorms verdächtig. Regisseur André Kaczmarczyk ist also gut beraten, die Geschichte ins 21. Jahrhundert zu befördern, und steht dabei ganz in der Tradition des formvollendeten Kinofilms von Tim Burton. Seine Alice ist eine coole junge Frau, die den schrägen Gestalten im finsteren Wald ordentlich Kontra gibt. Gespielt wird sie von der fabelhaften Lou Strenger, die als Titelfigur und Erzählerin gleichermaßen den Abend trägt und nebenher erstaunlich gut bei Stimme ist.
Zwei atemlose Stunden im Düsseldorfer Schauspielhaus
Ein kleines Mädchen in einem Reich voller Verrückter: Darin steckt natürlich auch eine Parabel aufs Erwachsenwerden. Doch Kaczmarczyk will mehr: Carrolls ganzes buntes Zauberreich holt er in zwei atemlosen Stunden auf die Bühne und fährt dabei eine Reihe schillernder Nebenfiguren auf. Großartig dämlich etwa ist Thomas Wittmann als Humpty-Dumpty, die sprechende Raupe gibt Claudia Hübbecker als alternde Diva mit Marilyn-Anstrich. Judith Bohles cholerische Königin fordert hartnäckig „Kopf ab!“, während sich Kaczmarczyk selber geradezu genüsslich die dankbare Rolle des verrückten Hutmachers überstreift. Ein Quartett am Bühnenrand mit Piano, Violine, Cello und Schlagzeug begleitet die Szenerie mit vielen, gut gelaunten Songs aus der Feder von Matts Johan Leenders. Dass die arme Alice hier bisweilen arg zur Schlagerqueen mutiert – geschenkt.
Kurioserweise versinkt all dies nicht in dem erwartbaren, grellbunten Ausstattungsrausch. Die opulenten Kostüme von Jenny Theisen sind zwar zum Niederknien, dagegen wirkt das Bühnenbild von Ansgar Prüwer fast schon zurückgenommen. Nur sparsam, aber klug ausgetüftelt ist der Einsatz von Requisiten, wallende Vorhänge markieren die raschen Szenenwechsel. Mehr als einmal glaubt man, der große Robert Wilson könnte hier Pate gestanden haben, mit dem Kaczmarczyk in Düsseldorf mehrfach zusammengearbeitet hat.
Jubelnder Schlussapplaus mit reichlich Wehmut
Im jubelnden Schlussapplaus schwingt reichlich Wehmut mit, denn nächste Woche gehen hier wie überall im Theater coronabedingt wieder die Lichter aus. In diesen merkwürdigen Zeiten nimmt man, was man kriegen kann.
Am 1. November ausverkauft, Termine: Tel. 0211/36 99 11