Essen. Leinwand-Neustarts: ein Roadmovie mit Iris Berben, ein Biopic über den Maler Edvard Munch und ein schlechter Retro-Frauenthriller.

„791 KM“

dddEin Sturm fegt über das Land, der Flugverkehr wurde eingestellt, an den Bahnhöfen fallen die Züge aus. Schicksal. Sonst wären sie einander vermutlich nie begegnet: die Professorin im Ruhestand und Spät-Hippie Marianne („Ungeduld ist ein Hemd aus Brennnesseln“, Iris Berben), der lässig-verpennte Physiotherapeut Philipp (Ben Münchow), seine ehrgeizige Frau Tiana (Nilam Farooq) und die geistig eingeschränkte, herzensgute Susi (Lena Urzendowsky). Aber so finden sie sich zu viert in einem Taxi wieder. 791 Kilometer sind es bis Hamburg. Es ist der Beginn einer nächtlichen Deutschlandtour mit dem bärbeißig-smarten Fahrer Josef (Joachim Król) am Steuer.

Filmemacher Tobi Baumann („Der WiXXer“) lässt es gewaltig menscheln in seiner Promi-besetzten Tragikomödie, die am Münchener Hauptbahnhof mit dem Entschluss beginnt, sich ein Taxi zu teilen. Erst geht es auf engstem Raum um Streitfragen: das Klima, das Gendern, Cancel Culture. Und um Josefs Regeln (nicht singen, nicht beten, nicht brüllen, nicht gegen den Sitz treten, nichts anfassen). Doch dann kommt sich die Fahrgemeinschaft langsam näher. Alle haben Probleme, alle führen wichtige Gründe nach Hamburg. Schicksale eröffnen sich, Karambolagen nicht ausgeschlossen.

Am Ensemble liegt es nicht, dass sich die Fahrt trotzdem in die Länge zieht. Das Quintett spielt mit viel Seele und Mutterwitz. Aber für einen derart intimen Rahmen (der visuell kaum mehr hergibt als vorbeiziehende Lichter und die Autobahn aus der Vogelperspektive) ist die Story zu dünn, zumal man früh ahnt, worauf das Ganze hinausläuft. Am Ende ist wieder niemand eine Insel. Schon gar nicht auf der A7. kui

„Silent Night – Stumme Rache“ mit Joel Kinnaman als Brian Godlock.
„Silent Night – Stumme Rache“ mit Joel Kinnaman als Brian Godlock. © Leonine | Lionsgate

„Silent Night – Stumme Rache“

Ein Mann sucht die Konfrontation mit bewaffneten Latino-Gangstern, weil die Minuten zuvor eine Kugel abfeuerten, die seinen Sohn tödlich verletzte. Er findet die Männer, wird überwältigt und in den Hals geschossen. Er überlebt, aber sprechen kann er nun nicht mehr. Sein Plan steht fest: In einem Jahr, am Heiligabend, will er Rache nehmen und alles beteiligte Gesindel umlegen.

Ein Selbstjustizreißer, der in brutal enthemmter Mischung aus Sentimentalität und Gewaltverherrlichung die Kinoleinwand besudelt. John Woo, in den 1980ern Hongkongs Regiestar für stylishes Actionkino, will es mit 76 noch mal wissen und serviert „Ein Mann sieht rot“ als modernen Asphaltwestern mit der Moral, dass ein Mann seiner inneren Stimme folgen muss.

Der stumpfe Schwede Joel Kinnaman („Robocop“) stakst in überdimensionierter Lederjacke durch hoch ästhetisierte Bildfolgen und schießt und sticht berserkerhaft. Das alles geschieht ohne jede Prise Humor und wirkt vor allem gedanklich arg aus der Zeit gefallen. John Woo will ernsthaft glauben machen, dass es ihm mit der Konflikt- und Charakterzeichnung ernst ist. Vor allem deshalb wirkt seine Rachefantasie erschreckend geistesschlicht. ues

Alfred Ekker Strande als Edvard Munch (21) in „Munch“.
Alfred Ekker Strande als Edvard Munch (21) in „Munch“. © DPA Images

„Munch“

Vier Stationen aus dem Leben und Wirken des norwegischen Malers Edvard Munch (1863-1944) – als junger Mann in der ländlichen Boheme in Vestfold 1885, wo er sich in eine verheiratete Frau verliebt; als aufstrebender Künstler in Berlin 1892, wo man seine Ausstellung absagt; in der Nervenklinik in Kopenhagen 1908/9, wo er seine Alkoholsucht bekämpft; und als alter Mann 1943 in Oslo während der deutschen Besatzung.

Eine ambitionierte Aufgabe hat sich Filmautor Henrik Martin Dahlsbakken gestellt, wenn er vier Episoden immer schneller ineinander verstrudelt, was die unterschiedlichen formalen Stilmittel umso stärker herausstreicht. Vestfold ist schulmeisterliches Kostümkino, dem das Bestreben um bildungsbürgerliche Anerkennung aus jedem Bild dringt. In der Nervenklinik hingegen ist das Bild schwarzweiß und bietet im klassischen Seitenverhältnis 4:3 surreal atmosphärische Kameraperspektiven wie bei Ingmar Bergman in den 1960ern. Noch drastischer ist die Berlin-Episode, in der die Menschen in gegenwärtigem Ambiente auftreten und die Diskussionen über Kunst, Geschäft und Medien ebenfalls unmittelbar auf unsere Zeit gemünzt sind.

Da auch die Titelrolle in jeder Zeitebene einen anderen Darsteller aufweist (in der Altersepisode ist es mit Anne Krigsvoll sogar eine Frau), fällt die Orientierung in diesem Film anfangs schwer. Dann aber entfaltet sich ein reizvolles Vexierspiel, das dem Charakter Munchs und dem seiner Bilder viel näher kommt, als es eine konventionelle Erzählung geschafft hätte. Es lohnt sich, in diesen Film die Zähne zu schlagen. ues

„Eileen“: Thomasin McKenzie (r.) als Eileen und Anne Hathaway als Rebecca.
„Eileen“: Thomasin McKenzie (r.) als Eileen und Anne Hathaway als Rebecca. © DPA Images | -

„Eileen“

Eileen arbeitet im Jugendknast, zu Hause betreut sie ihren alkoholsüchtigen Vater. Eileen ist noch Jungfrau und ergeht sich in erotischen Tagträumen über einige der Delinquenten. Eine gewisse Rebecca übernimmt die psychologische Abteilung im Knast und übt sofort eine unbändige Faszination auf Eileen aus. Die Mutter eines inhaftierten Jungen gerät damit ungewollt in ein zerstörerisches Spannungsfeld.

William Oldroyd („Lady Macbeth“) versucht sich an einem Frauenthriller. Mit der Neuseeländerin Thomasin McKenzie hat er eine vielversprechende Schauspielerin in der komplexen, aber wenig einnehmenden Hauptrolle; zugleich verschwendet er Anne Hathaway als plumpe Femme Fatale ohne psychologisches Unterfutter. Sein Film ist ein unausgegorener Minithriller, der wie eine verlängerte Version einer Episode aus „Alfred Hitchcock präsentiert“ aussieht, aber außer Retro-Chic keine Noir-Dichte bewirkt. Klasse ist allerdings Shea Wigham als Eileens Vater. Aber der ist keine Frau. ues