Dortmund. „Die Brücke“ und mehr: 120 Meisterwerke des Expressionismus im Dortmunder Museum Ostwall. Gegenwartskünstlerinnen stellen kritische Fragen dazu.

Sie wollten nackt baden, nackt tanzen, das nackte Leben. Sie wollten zurück zur Natur und frei sein, ganz anders als diese in Konventionen und Korsetts erstarrte Gesellschaft unter Wilhelm II. „Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt“, so endete das kleine Manifest der „Brücke“-Künstler, das auf einen Holzschnitt passte.

Jetzt liest man ihn am Anfang einer großen, bilderstarken Expressionismus-Ausstellung im Dortmunder Ostwall-Museum – und weiß am Ende, dass auch die Expressionisten nur ein, vielleicht zwei Stück weit ihrer Zeit entkommen konnten. Sie malten Außenseiter der Gesellschaft, Prostituierte, fahrendes Volk, Obdachlose, Schwarze. Aber nicht so sehr, um ihnen zu Sichtbarkeit zu verhelfen, sondern um neue, unkonventionelle Bildwelten zu schaffen. Um zurück zur Natur zu finden, die bei näherem Hinsehen dann doch wieder nur eine Konstruktion war.

Nolde, Heckel, Schmidt-Rottluff, Kirchner, Pechstein und Kollwitz im Museum Ostwall

All das lernt man in Dortmund – und steht doch fasziniert vor der Vitalität und Ausdruckskraft von Gemälden wie dem „Haus in Soest“ von Christian Rohlfs mit seinem feuerroten Dach, das umwuchert ist von Bäumen, Büschen und atmosphärischer Hochspannung. Die Konturen sind aufgelöst, die Farbflächen tanzen, alles ist Bewegung, aber auch Bedrohung in diesem Weltkriegsjahr 1916. Oder Otto Muellers „Landschaft mit Badenden“: ein Vorgeschmack aufs Paradies in gedeckten Farben und schlichten, aufs Nötigste reduzierten Formen, in un-verschämter Kleiderlosigkeit und stiller menschlicher Eintracht. Und selbst der „Blumengarten P“ mit einem Blütenmeer in allen Rot-Schattierungen macht noch das Herz hüpfen, auch wenn man weiß, dass Emil Nolde, ihr Maler, in seinen kruden nordischen und antisemitischen Ideologien den Nazis viel näher stand als es die Nachkriegszeit wahrhaben wollte, die ihn als Verfolgten des NS-Regimes ansah.

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Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, Käthe Kollwitz und Alexej Jawlensky – sie alle sind mit typischen Gemälden, Gouachen, Aquarellen und Holzschnitten in der Ausstellung „Expressionismus hier und jetzt!“ vertreten. Die Fülle der rund 120 Werke verdankt sich vor allem der Sammlung Horn aus dem Landesmuseum Schloss Gottorf in Schleswig, ergänzt durch Bilder aus der renommierten hauseigenen Expressionismus-Sammlung.

„Expressionismus hier und jetzt!“ zeigt auch Postkarten-Rückseiten aus den Kolonien

Ins Hier und Jetzt geholt wird der Expressionismus durch aktuelle Kunst in der Ausstellung. Natasha A. Kelly, eine von fünf Kuratorinnen, hat etwaeingehende Nachforschungen zu den Schwarzen angestellt, die Ernst Ludwig Kirchner Modell standen oder lagen. Es gab zwei verschiedene Arten von Schwarzen Modellen – Nelly, eine Tänzerin, die auch Kirchners Frau das Tanzen beibrachte, und Milli. „Milli, die immer so hieß, obwohl es verschiedene Modelle waren, wurde nur nackt gemalt“, sagt Natasha A. Kelly, die auch zwei Filme über „Millis Erwachen“ zeigt, inspiriert von dem Kirchner-Gemälde „Schlafende Milli“. Eine Video-Installation zeigt, wie klischeehaft Schwarze in den Filmen des frühen 20. Jahrhunderts vorgeführt wurden.

Der Berliner Afrika-Aktivist Moses März versucht zudem, die Einbindung der Expressionisten in den Kunstkapitalismus und Kolonialismus mit gezeichneten „Karten“ zu verdeutlichen, die freilich viel mehr (Er-)Kenntnis voraussetzen als sie erbringen. Sehenswert dagegen Luiza Prados Riesenbildschirm mit Postkartenrückseiten aus den deutschen Kolonien – und Vorderseiten, die von einer Künstlichen Intelligenz aus Internet-Bildern zusammengesetzt wurden. Und die Machete, die auf der einen Seite zum Schälen einer Kokosnuss dient, wird auf der anderen Seite plakativ zum Befreiungssymbol. Man sieht die Lithografien von Max Pechstein und die Aquarelle von Emil Nolde aus Papua-Neuguinea danach anders.

Die Daten: Bis 18. Februar 2024, Eintritt 9 Euro, Katalog 29,90 Euro

„Expressionismus hier und jetzt!“ Die Sammlung Horn zu Gast in Dortmund. Ostwall Museum im U-Turm, Leonie-Reygers-Terrasse 1. Bis 18. Februar 2024.

Geöffnet: Di/Mi/Sa/So 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr. Eintritt: 9 €, erm. 5 €. Katalog: 29,90 €.

Ein umfangreiches Programm mit Führungen, Workshops und einem Symposion ergänzen die Ausstellung (https://dortmunder-u.de/programm/?cat=182).