Velbert. Erste Premiere eines eigenen Stücks als Pina-Bausch-Chef: Langer Beifall für Boris Charmatz’ „Liberté Cathédrale“ im Velberter Mariendom.

Mit lang anhaltendem Beifall reagierte das Publikum im Velberter Mariendom auf die Uraufführung des ersten Tanzstücks von Boris Charmatz in seiner Eigenschaft als Leiter des Pina Bausch Tanztheaters Wuppertal. „Liberté Cathédrale“ nennt der Franzose die 100-minütige Performance, für die er sich viel Zeit gelassen hat.

Das Tanztheater im nachhaltigen Schatten der großen Ikone auf gleichem Niveau in eine eigene neue Richtung zu steuern, das ist halt eine ebenso reizvolle wie schwierige Aufgabe. Eine Aufgabe, die Charmatz geschickt angeht, indem er so weit wie möglich Vorbilder und Traditionen abzuschütteln und die Tanzkunst auf einen imaginären Nullpunkt zurückzusetzen versucht. Mit praller Energie und großen gestalterischen Freiräumen für die Tänzerinnen und Tänzer entwickelt sich eine rituelle Zeremonie von archaischer Urwüchsigkeit. Roh, unbehauen, ohne jede ästhetisch mildernde Verbrämung, so wie die schroffe, ungeschliffene Beton-Kulisse des Mariendoms mit ihrer 34 Meter hohen Kuppel.

Variations-Satz aus Beethovens letzter Klaviersonate

Es scheint, als ertasten die 27 Tänzerinnen und Tänzer der Kompanie und Charmatz‘ Pariser Projekt-Gruppe „Terrain“ vorsichtig die Bewegungsmöglichkeiten ihrer Körper, nachdem sie zunächst unkoordiniert auf die langgezogene, vom Publikum umringte Spielfläche stürmten und nach wenigen Takten stoppten. Sie singen den langsamen Variations-Satz aus Beethovens letzter Klaviersonate. Nach jeder Variation innehaltend, um zu neuen tänzerischen Versuchen anzusetzen.

Dieser Teil, „Opus“, ist der erste von fünf, die allesamt stark von den akustischen Möglichkeiten des eindrucksvollen Kirchenraums mitgeprägt werden. Allerdings meist nicht so harmonisch wie in der Beethoven-Sonate. Es folgt unter dem Titel „Geläut“ ein ohrenbetäubender Mix aus realen und elektronischen Glockenschlägen, zu denen die Tänzer wie in Trance ihre Körper wie schwingende Glocken oder erstarrte Schwengel bewegen.

Konzentration auf Archetypen des Tanzes und menschlicher Beziehungsmuster

Eine 15-minütige Phase absoluter „Stille“ gibt dem Ensemble Gelegenheit, sich selbst und den Raum wahrzunehmen. War das Verhältnis von Einzeltänzer und Kollektiv bis jetzt eher konfliktbeladen, wenn es zu überhaupt zu Gruppenbildungen kam, entspannt sich die Situation im vierten Teil, in dem sogar Teile des Publikums zu einem überdreht friedlichen Ringelreigen auf die Spielfläche gezogen werden. Ein brüchiges Idyll, das ein extremes Dauerfortissimo in der Orgel schnell zerplatzen lässt. Man rauft sich zu Paaren und Gruppen zusammen, deren Zusammenhalt schnell zerbricht und am Ende verlässt jeder noch einsamer den Spielort als zu Beginn.

Es ist Boris Charmatz mit der „Liberté Cathédrale“ tatsächlich gelungen, mit der Konzentration auf Archetypen des Tanzes und menschlicher Beziehungsmuster eine eigene Handschrift anzudeuten. Und das mit einer derart drastischen Klarheit, dass man gespannt sein darf, wie sich das Wuppertaler Tanztheater unter seiner Leitung entwickeln wird.

Die nächsten Aufführungen im Mariendom Velbert-Neviges: am 9., 10., 12., 13., 15. und 16. September; jeweils 20 Uhr (Infos und Tickets: www.pina-bausch.de)