Essen. Zahlenrattern, Zahlen-Choral, zahllose Gesten zackzack: Boris Charmatz’ neues Stück „infini“ übers Zählen als unbehagliche Lebensbedingung.
Die eine trägt am Körper nur einen Body, an den Füßen schon die Ausgeh-Glitzerschuhe, der andere Hose ohne Oberteil – selbst in den Kostümen ist sie zu lesen, diese Bereitschaft, loszulegen ohne ein festgelegtes Ziel vor Augen. Wer fix und fertig angezogen ist, dem fällt auch das befreite Denken von Unendlichkeit schwer, mögen sich Boris Charmatz und der Mode- und Kostümdesigner Jean-Paul Lespagnard gedacht haben. Eben um das Unendliche geht es im gleichnamigen Stück „infini“, das Charmatz jetzt als Deutschlandpremiere bei Pact Zollverein zeigte.
Der französische Choreograf arbeitet konzeptionell. Beim vorherigen Stück „10 000 Gesten“, das 2018 zur Tanzplattform nach Essen eingeladen und im Gelsenkirchener Musiktheater zu sehen war, feierte Charmatz die Einzigartigkeit der Bewegung im flüchtigen Medium Tanz: unzählige Gesten in rasanter Abfolge. Bei „infini“ ist Zählen das Thema – mal rattern die Tanzenden eine Zahlenreihe wie eine Maschine herunter, mal stimmen sie eine Art Zahlen-Choral an. Mehr Musik bedarf es an diesem Abend (fast) nicht. Die Zählenden führen in einen Ballettsaal, dann in den Krieg. Gezählt werden die Toten genauso wie die Schafe. Dann liegen die fünf Tänzerinnen und Tänzer – unter ihnen Boris Charmatz selbst – auf dem Boden, im Flackerlicht etlicher Signalscheinwerfer.
Ein Liebespaar nur für eine kurze Sequenz
Es ist eine immense Masse an Zahlen, konkreter Geschichtsdaten und Geburtsjahren, die das Ensemble herunterschmettert, mal sind sie Einzelkämpfer, mal kommunizieren sie im Chor und nähern sich auch körperlich, verschmelzen für eine kurze Sequenz zum Liebespaar, rauschen weiter zum nächsten (T)Akt. In den zähen Momenten der Inszenierung gerät diese assoziative Ansammlung zur plakativen Studie, an der sich die Tanzenden abarbeiten. Stärker sind die weniger eindeutigen Bilder, wenn die Körper sich den Raum erobern, sich tanzwütig auf den Boden werfen, wenn die Zahlen litaneiartig aus ihnen herausströmen. Dann entpuppt sich das Zählen als unbehagliche Lebensbedingung. Die treibt an, nimmt einem aber auch die Luft zum Atmen.