Wuppertal. Beim Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch geht es voran – jetzt hängt alles von der Integrationskraft des Intendanten Boris Charmatz ab.
Wenn das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch an den bevorstehenden Ostertagen „Das Stück mit dem Schiff“ von 1993 wieder aufnimmt, ist es das erste Mal in diesem Jahr, dass die berühmte Kompanie zu Hause im Bergischen ein Ensemblestück spielt. Denn bislang war sie auf Gastspielreisen: Ottawa, Montréal, New York – und im (Früh-)Sommer geht es weiter zu den Schlossfestspielen nach Ludwigsburg, zum Festival Montpellier Danse und nach Paris zum Théâtre de la Ville.
Die Kompanie ist gefragt wie eh und je. Überhaupt ist im Tal der Wupper einiges in Bewegung. Immer mehr internationale Ensembles wollen Bauschstücke einstudieren. Und: Das erste Großevent des neuen Intendanten Boris Charmatz im Mai ist in Vorbereitung; außerdem gewinnt das Pina-Bausch-Zentrum allmählich Konturen. Und – was nicht übersehen werden sollte – das digitale Archiv hat sich zu einem vermutlich weltweit einzigartigen Daten-Schatz entwickelt.
30-mal in „Wundertal“, 40 Gastspiele im woanders
So viel Anfang war nötig. Ob tatsächlich eine neue Ära anbricht, hängt ab von der Fähigkeit von Charmatz, als Identifikationsfigur das verjüngte Ensemble weiterzuentwickeln und ihm ein neues Profil zu verleihen – im Geist von Pina Bausch (1940-2009). Jedenfalls scheinen Schockstarre und eine ganze Dekade Findungsphase voller Turbulenzen nach Bauschs Tod überwunden.
Die Kompanie ist, selbstverständlich, nicht mehr dieselbe. Von den 33 Ensemblemitgliedern haben 18 nie mit Bausch gearbeitet. Aber die ehemaligen Mitglieder sowie viele der verbliebenen 15 Tänzerinnen und Tänzer tragen in der Probenleitung nach wie vor Sorge für eine möglichst originalgetreue Weitergabe des Werks. 30 Vorstellungen tanzt das Ensemble pro Jahr in Wuppertal, dazu mindestens 40 – sorgfältig ausgewählte – Gastauftritte. Mehr ist nicht zu leisten.
Salomon Bausch will, dass Tänzerinnen und Tänzer authentisch sind
Wie authentisch kann ein Werk der Ikone heute noch sein? Salomon Bausch, ihr Sohn, Vorstand und Gründer der Pina Bausch Stiftung, der die Rechte am Erbe gehören, sagt es so: „Wenn ich mich erinnere an ,Kontakthof’ mit der Pariser Oper oder an ,Das Frühlingsopfer’ mit Tänzer:innen aus 14 afrikanischen Ländern in 2022, kommt für mich das rüber, was rüberkommen soll.“ Ein Stück trage, wenn diejenigen, die da tanzen, „die Rolle mit ihrer eigenen Persönlichkeit erfüllen und dabei sie selbst sind“. Ein Werk nur aufzuführen, weil ein berühmter Name dahinterstehe – das könne es nicht sein, sagt Salomon Bausch. Aufrichtiges Interesse am Werk sei auch das Auswahlkriterium dafür, Lizenzen für die Aufführung von Bausch-Stücken an andere Kompanien zu vergeben – was zu Lebzeiten der Bausch die Ausnahme blieb. 2022 gab es drei weitere Projekte: „Tannhäuser-Bacchanal“ mit Studierenden der Western Australian Academy of Performing Arts in Perth, „Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört“ mit der Oper Lyon und „Das Frühlingsopfer“ mit dem Ballett Flandern.
Das Tanztheater Wuppertal steht derweil vor neuen Herausforderungen. „Wundertal/Sonnborner Straße“ lautet der Titel von Boris Charmatz’ erstem Projekt – ein choreographisches Happening unter Einbeziehung von 200 gecasteten Wuppertalern und Wuppertalerinnen am 21. Mai. Mit ihnen kreieren derzeit der Intendant und die Mitglieder des Tanztheaters eine Performance auf der Sonnborner Straße unter der Schwebebahn. Außerdem werden in der Projektwoche kleine Stücke und Events gezeigt. „Wundertal“ endet mit „Palermo Palermo“ in der Oper.
Pina Bausch Zentrum: Salomon Bausch will keinen Kulturtempel
Das Ganze ist ein Gemeinschaftsprojekt mit den Organisatoren des Pina Bausch Zentrums. Denn das umgebaute und um einen Neubau erweiterte Schauspielhaus wird nicht nur Herberge für das Erbe einer der bedeutendsten Choreographinnen der Tanzgeschichte, wird Heimat des Ensembles und internationaler Produktionsort für Kunstschaffende aus aller Welt. Salomon Bausch: „Es soll auch ein Ort für die Bürger:innen werden – kein Kulturtempel.“ Die Arbeit seiner Mutter habe immer in die Stadt gewirkt. „Jeder Taxifahrer in Wuppertal kannte sie. Viele fühlten sich mit ihr verbunden“, erzählt er und verweist auf die Pina-Bausch-Gesamtschule der Stadt. Deshalb wünscht er sich, dass ganz Wuppertal sich mit Ideen einbringt, sich das Zentrum zu eigen macht.
Fertigstellung des Pina Bausch Zentrums für 2027 geplant – noch
Anfang Juni wird die Jury drei Siegerentwürfe aus dem Architektenwettbewerb, an dem renommierte Büros aus aller Welt teilnehmen, auswählen. Als Eröffnungstermin für das Zentrum wird (noch) 2027 genannt.
Auch das digitale Archiv, Herzstück der Bausch-Stiftung, zieht in das Zentrum ein. Da wird großartige Arbeit geleistet. Seit Ende 2021 online ist es ein kostenloses Angebot, in das man sich stundenlang vertiefen und Entdeckungen machen kann. Mittlerweile sind Materialien zu allen 53 Bausch-Stücken eingestellt. Zu ausgewählten Werken gibt es Preziosen. Etwa zu „Café Müller“ Videos aus 20 Aufführungen mit Tänzerinnen und Tänzern verschiedener Generationen, dazu Porträts und Interviews. Alles ist verschlagwortet und verlinkt. Im Mai ist eine Filmpremiere mit dem Dokufilm „Ahnen ahnen“ über den Probenprozess von „Ahnen“ geplant, den Pina Bausch 1987 für einen Förderantrag drehte.
Die vielen Klickzahlen und Anfragen von Forschenden weltweit freuen den Stiftungs-Chef: „Das Interesse ist riesig.“ Das Tanztheater Wuppertal lebt von der Vergangenheit, arbeitet aber hoffnungsvoll an seiner Zukunft.