Recklinghausen. Alles in allem viereinhalb Stunden forderten die Ruhrfestspiele zur Eröffnung vom Publikum. Am Ende Jubel für eine großartige Schauspielerin!

Wahre Liebe hat Sitzfleisch: Wer sich Mittwoch auf dem Grünen Hügel das komplette Eröffnungspaket reintat, gab viereinhalb Stunden für die Kunst. Erst die Auftaktrede der Schriftstellerin Anne Weber, dann wieder drei Stunden Prosa (freilich im dramatischen Gewand), dazwischen lauter Freigetränke auf Deckel des Hauses. Mitunter hilft das.

Ruhrfestspiele 2023, erster Streich: Aus den 308 Seiten von Olga Tokarczuks Öko-Thriller „Gesang der Fledermäuse“ ein Konzentrat von 180 szenischen Minuten. Tokarczuks raffiniert gebautes Werk lässt, um im Bild zu bleiben, als „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ einige Federn. Denn eine der großen Gaben der Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2018 ist eine ironiesatte, tollkühn detailversessene Milieuschilderung jener polnischen Provinz, in der Ich-Erzählerin Janina ihr einsames Häuschen auf dem Hochplateau bewohnt. Männer der alten Sorte vor allem, welcher Dorn im Auge! Fett, geil, machtversessen, stumpf, vor allem sind sie allesamt versoffene Jäger. Und da Janina, die ein unklarer Lauf der Welt von der Brückenbauingenieurin zur Aushilfslehrerin gemacht hat, Tiere mehr liebt als ihre eigene Spezies, hat sie das Feindbild massenweise vor der Tür.

Avantgarde, konventionell: Olga Tokarczuks Roman bei den Ruhrfestspielen

Und dann sterben sie plötzlich, der eklige Nachbar, der seinen Hund quält, der Pastor, der die Schützen samt Flinten segnet, der Kommissar, der Janinas Anzeigen verhöhnt – alle gemeuchelt, alle mit Zeichen von Tierspuren wie Reh oder Käfer. „Die Tiere rächen sich“, wettert die unbequeme Wutbürgerin. Aber wer war’s wirklich?

Simon McBurneys Transfer des Romans ist eine solide Literaturadaption, von einem Theaterwunder ist die Regie weit entfernt. Es ist der Bauchladen konventioneller Avantgarde, aus dem der Brite sich bedient. Um Janina agieren zehn Schauspielerinnen und Schauspieler im erwartbaren Wechsel, mal Pfaffe, mal Elster zu sein. Hinten Filmprojektionen, als Sound mal Gruselakkorde, mal wummernde Bässe, wird’s traurig, tropft Klavierkitsch durch die Decke, vorne ein Mikro im fast leeren Raum: eine handzahme Performance, die um eine Stunde gekürzt deutlich mehr Sogwirkung entfaltet hätte.

Der Abend „Drive your Plow“ lebt von Hauptdarstellerin Kathryn Hunter

Dass der Abend lange in Erinnerung bleiben wird, hat einen Grund und Namen: Kathryn Hunter (no jokes about names!). Zart und zäh zugleich erobert sie mit ihrem ersten Satz den Saal (Reibeisentöne der Sorte Thalbach). Was für ein Gespür für Pointen und Timing! Dazu schenkt sie dieser Janina ein irrlichternd rasantes Kaleidoskop der Menschlichkeit. Als aufbegehrende Heldin bestaunen wir sie, um gleich darauf dieses waidwunde Wesen aufpäppeln zu wollen.

McBurney lässt Hunter Raum, spitzt um sie herum Janinas Männerbild in nachvollziehbarer Karikatur zu, findet klare Bilder für Tod und Schrecken, aber eine Interpretation hat er nicht zu bieten: Die Geschichte wird schlicht vom Blatt gespielt. Das im Originaltitel (und Stück) gebende Leitmotiv „Fahre deinen Pflug durch die Knochen der Toten“ ist präsent, weniger glückt McBurney dessen geistigen Vater, den englischen Naturmystiker William Blake einzubinden.

Lauter Jubel nach drei Stunden

Es gab lauten Jubel. Das Stück ist noch bis Samstag bei den Ruhrfestspielen zu sehen, darum verraten wir nicht, wer’s war. Doch ein Zitat des Originals mag helfen: Die menschliche Psyche ist dazu da, uns vor dem Anblick der Wahrheit zu bewahren.

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Noch drei Aufführungen

Am heutigen Donnerstag (20 Uhr), am Freitag (20 Uhr) und Samstag (19 Uhr) ist „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ noch bei den Ruhrfestspielen zu sehen. Karten für alle drei Aufführungen gibt es an der Abendkasse oder unter www.ruhrfestspiele.de