Der große Bach ganz vielseitig: Neue CDs erzählen sein Leben, bringen seine Musik auf Gitarre oder großen Steinway: Wir stellen sie heute vor.
Biografisches Mosaik
„Man erblickt nur, was man weiß und versteht.“ Die Sentenz des Augenmenschen Goethe darf man getrost auf die Musik übertragen. Nach vielen großartigen Komponistenbiografien in Hörbuch-Formen, ist Jörg Handstein jetzt beim bedeutendsten Ahnherren abendländischer Musik angelangt: Johann Sebastian Bach. Das Ergebnis sind dreieinhalb faszinierend gestaltete Stunden (als Bonus hält CD 4 Bach pur bereit), die uns auf jenen steinigen Weg führen, den dieses Genie beschritt. Das Haltlose der Kindheit, ein künstlerischer Beginn knapp überm Gesinde (der erste Vertrag stuft ihn als „Lakai“ ein), Arrest und Ruhm, Gottesfurcht, Krankheit und Kreativität: Handstein hat für dieses von rund 90 Musikbeispielen durchsetzte Biografiemosaik starke Sprecher gefunden. Als Erzähler in „Die Geheimnisse der Harmonie“(4 CDs, BR-Klassik) brilliert Udo Wachtveitl, sacht thüringische Töne steuert der in Jena geborene Albrecht Schuch als Bach bei.
Bachs andere Saiten
Ein Kennzeichen größter künstlerischen Schöpfungen ist, dass sie besonders viel aushalten. Es muss ja nicht gleich „Ekseption“ sein. Aber erstens war die Bearbeitung für andere Instrumente im Barock an der Tagesordnung, zweitens kann sie beglücken, wenn sie von einem so stilsicheren, hochbegabten Interpreten in die Tat umgesetzt wird wie Thibault Cauvin („Bach“, Sony). Die berühmte Toccata vom Volumen der Orgel auf eine Gitarre umzusiedeln, darüber kann man streiten. Aber wie Cauvin (im elegantesten Legato) die von seinem Bruder Jordan geschaffenen Fassungen von Stücken aus dem Wohltemperierten Klavier und der ersten Cellosuite auf den Saiten regelrecht singt, das ist pure Seelenmusik. Den Geist dieses Albums untermauert der spirituelle Aufnahmeort; wir lauschen der warmen Akustik einer romanischen Dorfkirche in der Dordogne.
Johannes-Passion, filigran
Bach ist für Lars Ulrik Mortensen eine Konstante seines Lebens. Hunderte Barockkonzerte hat der Schüler Trevor Pinnocks vom Cembalo aus begleitet, um dann (wie nicht wenige Alte-Musik-Experten) selbst ans Dirigentenpult zu treten. Bald ein Vierteljahrhundert leitet er nun schon das wundervolle „Concerto Copenhagen“, mit dem er jetzt die Johannes-Passion (2 CDs, Berlin Classics) vorlegt. Er wählt jene heute nicht unübliche Besetzung, die einen Karl Richter noch an den Rand des Nervenzusammenbruchs geführt hätte: nur acht Sängerinnen und Sänger, die auch die Solopartien von Jesus bis Pilatus übernehmen. Kein schmales, sondern ein in glasklarer Weite sich öffnendes Klangbild (entstanden in Kopenhagens barocker Garnisonskirche) ist das Ergebnis.
Mortensens Bach ist im dramatischen Fluss, keinen Augenblick zäh. Das Orchester ist exzellent. Die Vokalisten sind im Solo gut, als Chor aber agieren sie superb: Die bangen, fragilen „Wohin?“-Rufe Richtung Golgatha erzeugen Gänsehaut. Dies ist eine Aufnahme, die dem Leiden Christi eine besonders intime, aber dafür nicht weniger erschütternde Dimension verleiht
Schwelgen mit Goldberg
Schließlich noch ein sehr hörenswertes Überbleibsel von 2022, Fazil Says „Goldberg-Variationen“ (CD, Warner) waren im Rezensionsstapel nach hinten gerutscht. Wie ungerecht! Und seltsam, dass uns gar nicht aufgefallen war, dass im riesigen Oeuvre des türkischen Ausnahmepianisten Bach keineswegs vorn liegt, obschon der Musiker keinen Morgen ohne ein paar Takte des Eisenachers am Klavier beginnen kann. Nun also Goldberg: Oft von Say live gespielt, die Reife zu einer Verewigung hielt er nun für gekommen. Wie Bachs Formstrenge ohne Enge musizierend gelebt werden kann, hören wir eindrucksvoll. Nichts Historisierendes umweht den üppigen (am Steinway auch von üppiger Pedalnutzung getragenen) Klang, mit dem diese Meisterstunde an uns vorüberzieht. Klug tariert Say Liedhaftes und Kompositionsmathematik, Architektur und tänzerische Leichtigkeit aus. Say spielt sich mit einem technisch makellosen, zugleich herrlich leicht-händigem Spiel weit hinauf in die Liga großer Aufnahmen. Und davon gibt es nicht wenige.
Lars von der Gönna