Essen. Fazil Say: schillernder Pianist und politischer Künstler. Nun hat er alle Sonaten Beethovens aufgenommen. Eine überragende Aufnahme!
Die längste Klavierkomposition der Klassik? Der türkische Pianist Fazil Say wartet mit einer frappierenden Antwort auf. „Das ist ein 605 Minuten langes Stück, das aus 32 Sonaten besteht“. Beethoven also. Zwei Jahre lang hat Say sich diesem Universum ausgeliefert. Er, der mit acht Jahren schon Beethovens kleine Sonaten spielte und später, als gefeierter Pianist, insgesamt 14 im Repertoire hatte, traf also immer noch 18-fach auf Terra incognita für sein Projekt einer Gesamtaufnahme.
Aber neu, das merkt man dieser heute erscheinenden, kühnen und durchweg elektrisierenden Deutung an, war eigentlich alles. Say, eben 50 geworden, lehnt sich auch als reifer Pianist keinen Augenblick zurück, „kräftezehrend“ nennt er diese Zeit mit Beethoven. Selbstbewusstsein schließt solche Mühen nicht aus. Seiner Hoffnung, „eine der maßgeblichen Interpretationen des 21. Jahrhunderts“ beizusteuern, gibt Say ganz offen Ausdruck.
Der begnadete türkische Musiker Fazil Say hat sich immer auch politisch eingemischt
Es war in den letzten 15 Jahren unmöglich, Say allein als den begnadeten Musiker (3000 Konzerte seit Karrierebeginn) und facettenreichen Komponisten (80 Werke von der Filmmusik bis zum Oratorium) wahrzunehmen, der er ist. Das politische Einmischen des Mannes, der in Ankara als Kind weltoffener Akademiker aufwuchs, nahm nicht nur seine türkische Heimat war.
Die Lage der Menschenrechte dort schien ihm schon 2007, als er Residenzkünstler des Dortmunder Konzerthauses war, so unerträglich, dass er das Auswandern öffentlich zur Option erklärte. Später rügte Say gnadenlos den erfolgreichen Arabeske-Pop seiner Heimat als rückständige Musik, für die er sich schäme (Erdogan wird eine Vorliebe für diese Macho-Schnulzen nachgesagt). Gerichte beschäftigten Says Witze über Muezzins und das Paradies. Aber dieser Künstler ist auch eine Sphinx: Als er es vor einem Jahr schaffte, Erdogan in dessen womöglich erstes Klassik-Konzert zu holen (und sich hernach von ihm die Hand schütteln ließ), sahen Gegner des Despoten den Künstler einknicken („Hofkapellmeister Erdogans“). Die Verteidigungslinie hieß: Endlich höre der Präsident Musik der Aufklärung.
Alle 32 Beethoven Sonaten hat Fazil Say im Salzburger Mozarteum aufgenommen
Spielt Say Beethoven, scheint all das klein und kaum mehr als Tagespolitik. Die Aufnahme, für die er akustisch den weiten Raum des großen Mozarteum-Saal von Salzburg wählt, führt uns in eine Welt für sich. Seiner Liebe zu extremen Tempi (die Welt steht still im Adagio der Mondscheinsonate) bleibt Say treu, doch wirkt nichts davon manieriert, auf bloßen Effekt aus. An den 88 Steinway-Tasten sitzt Say wie an einer Staffelei: Landschaftsmalerei, Porträtkunst, expressionistische Enthüllung, Pointillismus – all das ruft er mühelos ab auf seinem Weg zu Beethoven, dem Zukunftsweisenden (gespenstisch intensiv im langsamen Satz der Waldstein-Sonate), dem Lyriker, dem Rebellen.
Says dichte, nie ausfransende Lesart formt auch Gegensätze stets zu Seiten einer Medaille. Es gibt in dieser Aufnahme unendlich viel zu entdecken. Wir hören einen Pianisten, der ganz bei sich ist und bei Beethoven zugleich: Das Entgrenzte, dieser verschwenderische Fluss absoluter Kunst sind das überwältigende Kapital dieser großartigen Aufnahme.
Fazil Say. Beethoven. Complete Sonatas. Warner, ca 59€