Essen. Er wird begeistert gefeiert für seine Interpretationen barocker Meisterwerke. Raphaël Pichon ist Essens „Artist in Residence“. Ein Interview.

Mit dem von Salzburg bis Paris gefeierten Alte-Musik-Experten Raphaël Pichon (36) setzt Essens Philharmonie auf einen aufsteigenden Stern als „Artist in Residence“. Lars von der Gönna traf den Dirigenten zum Gespräch – über seine Zeit im Knabenchor, Musik im Kollektiv und das Abtauchen in Bachs Welt.

Monsieur Pichon, ich würd’ zu Beginn gern mit Ihnen weit in die Vergangenheit reisen: zu jenem Raphaël, der acht Jahre alt ist und im Knabenchor der „Petits Chanteurs De Versaille“ seinen ersten Auftritt hat. Was war das für ein Gefühl, diese Musik höchster Qualität zu singen?

Raphaël Pichon: Ein gewaltiger Schock! Echt! Aber nicht die Art von Musik war der Schock, ich spielte ja schon Geige. Nein, es war das Singen in einer Gemeinschaft. Es hat alles für mich verändert, alles. Die Erfahrung, im Kollektiv Musik zu machen, Teil einer Gruppe zu sein, mit unseren Stimmen die Magie der Akustik einer Kirche zu erleben, diese unbeschreibliche Reaktion von Klang und Stein! Ich war total überwältigt. Ein toller Schock!

Erinnern Sie sich an ein erstes Werk, dass Sie beeindruckt hat?

Und ob! Bachs „Johannes-Passion“. Wie wir den letzten Choral „Ach Herr, lass Dein lieb’ Engelein“ gesungen haben, das ist präsent bis heute. Ich war ein Kind, aber ich habe gespürt: „Du musst jetzt noch nicht alles verstehen, aber hier gibt es etwas, das größer ist als wir alle zusammen.“ Die Magie Bachs, seine Wucht und Spiritualität, das hat etwas in mir verändert, eindeutig.

Was tat Bach und andere Musik dieser Güte mit Ihnen?

Von dieser Musik übermannt zu werden, war für mich als jungen Menschen wie Tauchen. Ich verschwinde wirklich aus dieser Welt, entdecke stattdessen eine ganz andere, mit eigenen Räumen, eigenen Gesetzen, eigenen Sensationen. Eine Welt hinter unserer Welt.

Sie waren erst 22, da gründeten Sie schon – recht mutig – mit „Pygmalion“ ein eigenes Alte-Musik-Ensemble. Was fasziniert Sie so an Barockmusik?

Am Ende reden wir auch von Zufällen: Im Knabenchor fand ich zur Sakralmusik, ganz viel Bach, dort lernte ich historische Instrumente kennen, mit 16 wurde ich Assistent im Chor, dazu Pianist auf Proben, Organist. Sagen wir mal: Der Weg war herrlich geebnet, ich musste ihn nur noch auf meine Weise gehen. Klar war immer: Ich will es in der Gemeinschaft tun. Die Erfahrung im Knabenchor war derart mächtig, das war eindeutig eine Prägung. Das war sozusagen die menschliche Seite der Musik: Wir können verschiedenen Meinungen haben, aber wir haben einen gemeinsamen Klang.

Sie sind ein Anwalt des Spiels auf historischen Instrumenten. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass meine alten Bach- und Mozart-Aufnahmen von Karajan, Böhm oder Bernstein was für die Rumpelkammer sind?

Nein, gar nicht. Es liegt in der Natur jeder Dirigentengeneration, etwas in der Musik zu suchen, was andere übersehen haben. So haben die Großen, die Sie nennen, es auf ihre Weise auch getan. Für mich ist mein Weg der richtige; aber ich bin nicht so hochmütig zu glauben, dass das der Weisheit letzter Schluss ist. Wir forschen immer nach Wahrheit in der Musik, aber die ist eben auch an die Welt gekoppelt, die uns gerade umgibt.

Nach Essen bringen Sie einen starken Schwerpunkt geistlicher Musik: Drei Abende allein kreisen mit „La Vie Du Christ“ um Bach.

Ein großer Bach-Forscher vertritt die These, dass Bachs eigentliches Testament nicht „Die Kunst der Fuge“, sondern sein ganzes Schaffen „Soli Deo Gloria“ ist, allein zur Ehre Gottes: jene Werke, die Geburt, Passion und Auferstehung vertonen. Das hat mir eine neue Sicht gegeben. Davon will ich mit drei ganz besonders zusammengestellten Abenden erzählen. Wir reden von Fragen, die größer sind als aktuelle Krisen der Religion. Die Konzerte sollen auch eine Reflexion über menschliches Dasein heute anbieten. Bach hat so viel dazu zu sagen.

Welche Rolle spielt Glaube in Ihrem Leben?

Eine starke. Ich bin definitiv ein Mann des Glaubens!

Was soll das Publikum über Ihre Residenz am Ende sagen?

(lange Pause) Dass es noch mehr Musik hören möchte!

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DIE RESIDENZ

Eine üppige Farbpalette an Kompositionen wird Raphaël Pichon seine Essener Residenz gestalten. Sie reicht insgesamt von Bach bis Mahler.

Die ersten drei Konzerte: Den Anfang macht die klingende Visitenkarte „Pygmalion“ am 23.10. mit Arien und Kantaten von Händel und Bach (Sopran: Sabine Devieilhe); Brahms’ „Ein deutsches Requiem“ mit dem weltweit gefeierten Bariton Andrè Schuin erklingt am 20.11. Der erste Teil des Großprojektes „La Vie Du Christ“ ist am 4. März 2022 zu hören. Detail-Infos und Kartenerwerb unter www.theater-essen.de/philharmonie/