Essen. Judith Hermann erzählt auch in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen ganz im Stil ihrer Prosa: „Wir hätten uns alles gesagt“.

Wer sich vor Augen führen möchte, wie groß – eins, zwei, drei! – jener Sauseschritt ist, in dem die Zeit uns mitreißt, muss sich nur vor Augen führen, dass man literarische Debüts noch kurz vor der Jahrtausendwende ungeniert als „Fräuleinwunder“ feiern konnte. Als solches galt seinerzeit Judith Hermann, ihr Erzähl-Band „Sommerhaus, später“ wurde, erst recht nach einem Lob von Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“, zu Hunderttausenden verkauft – und bescherte seiner Autorin einen Druck, dem sie kaum standhalten konnte.

Den erst sechs Jahre später folgenden, wiederum gelungenen Erzählungs-Band „Nichts als Gespenster“ nahm der Literaturbetrieb, der längst auf der Suche nach der nächsten Sensation der Saison war, mit routinierter Anerkennung wahr. Hermanns erster Roman „Aller Liebe Anfang“ (es muss ja immer ein Roman sein, Short Stories gelten hierzulande nur als Aufwärm-Strecke) missriet und floppte 2014.

Eine groß Erzählung, wie es auch Raymond Carver mitunter praktizierte

Nun hat sich Judith Hermann wiederum dem Genre der Erzählung zugewandt. Allerdings kaschiert als „Frankfurter Poetikvorlesungen“ unter dem Titel „Wir hätten uns alles gesagt“. Es ist eine große Erzählung aus dem Blickwinkel mehrerer kleiner, ganz so, wie es ihr großes Idol Raymond Carver gelegentlich praktizierte.

Judith Hermann erzählt in diesen so gar nicht akademisch, sondern literarisch gehaltenen „Vorlesungen“ von den persönlichen, biografischen, familiären Voraussetzungen ihres Erzählens. Etwa von jenem Sommerhaus, das den melancholischen Titel ihres Erfolgsdebüts prägte und etliche Sommer im Freundeskreis einer Wahlfamilie. Und doch verfällt Judith Hermann beim abgeklärten Blick zurück so gut wie pausenlos in ihren unverkennbaren Erzählton, der Dinge und Beziehungen, Gefühle und Verhältnisse immer nur umkreist, wie aus Sorge, durch nacktes Benennen den (mitunter schwarzen) Zauber des Lebens zu verscheuchen.

Wenn der Psychoanalytiker Judith Hermanns „Lettipark“ liest

Wir lesen von Ihrer Psychoanalyse, weil sie den Therapeuten Dr. Dreehüs, nachdem Jahre voller Sitzungen vergangen waren, in einem abgeranzten Club trifft. Sie hatte ihm nach der Therapie ihren 2016 erschienenen Erzählungsband „Lettipark“ geschickt, und er fand, sie habe darin die Realität so verfremdet, „dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr“. Schon auf der Couch hatte sie ihm lauter Geschichten erzählt, und auch jetzt hören wir wieder welche, vom elenden Tod des armen Marco, vom Verbürgerlichen der einstigen Alpha-Frau Ada, vom tapferen Ausharren der Eltern in einem Wohnblock, der peu a peu „entmietet“ wird. „Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht,“ heißt es in diesen Vorlesungen. Aber dieser rote Faden ist ja gar nicht das Entscheidende. Es ist der Sound, der Judith Hermanns Erzählen ausmacht, es sind die Leerstellen, das Ungesagte und Gespensterhafte – letztlich das Beharren darauf, dass es mehr gibt als die Dinge, die wir sehen.