Essen. . Sie galt als „Fräuleinwunder“ der jungen deutschen Literatur. 16 Jahre nach ihrem Durchbruch mit „Sommerhaus, später“ legt Judith Hermann einen Roman vor. „Aller Liebe Anfang“ erzählt, wie Liebe und Leben dem Zufall unterworfen sind.

Stella ist aufgelöst und verloren, Jason staubig und müde. Stella kommt von einer Hochzeit, Jason von der Arbeit, nebeneinander sitzen sie im Flugzeug. So beginnt eine Liebe, die in Judith Hermanns neuem Roman „Aller Liebe Anfang“ aber nur der Anfang einer ganz anderen Geschichte ist.

Was macht, dass wir uns verlieben? Dass wir verrückt werden vor Gefühl, einen anderen Menschen in Gedanken besetzen, uns zu eigen machen? Und wenn wir zurückgeliebt werden, müssten wir das nicht als Wunder begreifen? Denn es könnte uns ja auch so gehen wie Mister Pfister, der an Stellas Tür schellt, der ihr Zettel in den Briefkasten wirft, der alles über Stella zu wissen scheint und ihr doch nie nahe kommen darf.

Übersetzt in 17 Sprachen

1998 begründete der Erzählband „Sommerhaus, später“ mit 250.000 verkauften Exemplaren und Übersetzungen in 17 Sprachen die Ära des „Fräuleinwunders“ und zugleich eine Renaissance der Kurzgeschichte. Seither ist der „Judith-Hermann-Sound“ eine sprachliche Kategorie für sich. Die kurzen Sätze, wie beiläufig hingeworfen, bestimmen erneut den Tonfall, und wieder lotet Hermann die Innenwelt ihrer Protagonistin aus, indem sie alles Geschehen ganz aus ihrer Perspektive beschreibt. Das gibt dem Roman von Beginn an etwas leicht Klaustrophobisches, selbst die an sich harmlose Beschreibung eines typischen Hausfrauenvormittags – Stella faltet die Wäsche ihrer kleinen Tochter Ava, sie sieht nach den Pflanzen, der Post – erhalten einen Unterton des Unheimlichen.

Besuch von Mister Pfister

So aber ist das Unheimliche, das in Gestalt des Stalkers Mister Pfister in Stellas Leben tritt, beinahe schon keine Überraschung mehr. Der junge Mann mit dem Kapuzen-Pulli, der offensichtlich ein psychisches Problem hat, dringt in Stellas Leben ein, er rüttelt am Gefüge ihrer Beziehung, an der Sicherheit von Stellas Vorstadtleben zwischen Kita, Haus, Garten und ihrer Arbeit als Altenpflegerin. Meisterlich deckt Hermann die Zwiespältigkeit auf, mit der Stella ihren Verfolger einerseits als Bedrohung erlebt, andererseits die Störung ihres Alltags, die ihr geschenkte Aufmerksamkeit eine Lücke zu füllen scheint. Jason ist nicht nur dann abwesend, wenn er wochenlang auf Montagereise weilt.

Wenn Hermann sich schließlich auch der Innenwelt dieses Mister Pfister nähert, dann mit Stellas Blick, mit der ganzen Kraft ihres Vorstellungsvermögens. Sein Haus gleicht ihrem Haus, Stella steht schließlich auch vor seiner Tür und klingelt. Wenn auch nur, um ihn anzuschreien. Die Eskalation am Schluss, das blutige Ende der Stalkinggeschichte, ist zugleich ihr einziger Schwachpunkt – ein Einruch von Realismus in die ansonsten so stilsichere Stimmungsmalerei.

Sehnsucht als Grundsatz

Judith Hermann erzählt davon, wie zufällig unser Lieben und Leben ist, wie vermeintlich die Gewissheiten. Dabei gelingt ihr das Kunststück, unser grundsätzliches Vertrauen in die Welt zugleich in Frage zu stellen und als grundsätzliche Sehnsucht zu untermauern. Die Sehnsucht nach jenem Urzustand, den Stella allabendlich beim Zubettbringen ihrer Tochter Ava bestaunen darf, wenn sie ihre Hand hält, ihren Atemzügen lauscht: „Atmen, als gäbe es auf der Welt nichts zu befürchten“.