Essen. Judith Hermann (50) veröffentlicht ihren zweiten Roman: „Daheim“ erzählt von der Lebensmitte und ist nominiert für den Leipziger Buchpreis.
„Daheim“ heißt der neue, für den Leipziger Buchpreis nominierte Roman von Schriftstellerin Judith Hermann. Und daheim fühlt man sich bereits auf den ersten Seiten: In einer Sprache, die mit schlafwandlerischer Sicherheit dahingleitet durch den Traum eines ganz und gar unspektakulären Lebens.
Unspektakulär, aber doch voller Geheimnisse. „Damals, in diesem Sommer vor fast dreißig Jahren, wohnte ich im Westen und weit weg vom Wasser. Ich hatte eine Einraumwohnung im Neubaugebiet einer mittleren Stadt und Arbeit in einer Zigarettenfabrik.“ So beginnt Judith Hermann die Geschichte ihrer namenlosen Erzählerin, die an vor Hitze dampfenden Sommerabenden rauchend und in Unterwäsche auf ihrem Balkon sitzt und ein Kleid nur überstreift, um am der Tankstelle unten ein Eis zu kaufen. „Die blaue Leuchtreklame der Tankstelle, die anfahrenden, abfahrenden Autos… Ich stellte mir vor, dass alle diese Leute auf eine lange Fahrt gingen, wirklich weit weg wollten, Leute auf der Durchreise.“ Auch die Erzählerin ist auf einer gefühlten Durchreise. „Ich besitze nichts“, heißt es, nur eine Tasche, darin „mein Portemonnaie, mein Schlüssel, meine Zigaretten, mein Feuerzeug“. – „Ich nahm an, ich hätte von dieser mittleren Stadt aus sofort in eine andere gehen können.“
Als sie vor 30 Jahren ein Eis an der Tankstelle kaufte, traf sie auf einen Zauberer
Ein Hochhaus, eine Tankstelle, eine Zigarettenfabrik. Prosaische Orte, ebenso wie das Dorf am Meer, in dem die Erzählerin dreißig Jahre später wohnen wird. Sie hat sich zurückgezogen, in weiter Ferne gibt es einen Briefe schreibenden Exmann (Otis) und eine weltreisende Tochter (Ann), etwas näher einen Bruder (Sascha), der am Meer eine Kneipe betreibt und sich in eine zwanzigjährige Kellnerin verliebt (Nike). Es gibt Nachbarin Mimi und deren Bruder Arild.
Als dieser Arild eine Marderfalle aufstellt, einen länglichen Käfig, erinnert sich die Erzählerin an eine andere längliche Kiste, erinnert sich, einmal die berühmte zersägte Jungfrau gewesen zu sein: Als sie vor 30 Jahren ein Eis an der Tankstelle kaufte, traf sie auf einen Zauberer, der sie einlud, als Teil seiner Show auf einem Schiff nach Singapur zu reisen. Beim Probe-Zersägen hat sie das Gefühl, „ich wäre tatsächlich in zwei Hälften geteilt – nicht körperlich, eher im Kopf. Vielleicht im Herzen. … ich war da, und ganz woanders.“ Nach Singapur reist sie nie.
Hermanns „Sommerhaus, später“ prägte einen Tonfall lakonischer Melancholie
Nicht ganz dreißig Jahre, aber doch 23 ist es her, dass die heute 50-jährige Schriftstellerin Hermann mit ihrem Erzählband „Sommerhaus, später“ einen Tonfall lakonischer Melancholie prägte, der hernach oft kopiert (nie erreicht) wurde. Ihre Protagonisten ließ sie durchs Leben schwimmen wie jenes Treibgut, das nun im neuen, überhaupt erst zweiten Roman von Mimi mit Leinwänden abgefischt wird – Tang oder der Abdruck von etwas wird zur Kunst.
Hermanns Roman ist der Abdruck, den das Leben hinterlässt, abgefischt über die Jahre: Die „Sommerhaus“-Bewohner haben geheiratet, Kinder bekommen, sich wieder scheiden lassen, jetzt stehen sie vor der Frage: wie weiter? Wie sich verwandeln und doch heil bleiben? Wie Wurzeln schlagen und nicht Gefangener sein? Einst wurde Hermann als Stimme einer Generation gefeiert, nun zeigt sich: zu recht.