Judith Hermanns neuer Erzählband „Lettipark“ besticht durch seine radikale Reduzierung. Sie lotet darin Innenwelten aus und geht universellen Fragen nach.

Der Lettipark ist „ein gewöhnlicher, trostloser Park am Stadtrand, eine Brache“ – der Ort, an dem Elena aufgewachsen ist, und darum etwas sehr Besonderes, jedenfalls für Page Shakusky, der Fotos vom Lettipark in ein Album klebt und es Elena schenkt: „In Page Shakuskys Buch für Elena war der Park schwarz und weiß und menschenleer gewesen. Ein Zwischenreich. Eine schwebende, sphärische Welt. Zwischen den Bäumen ungewisse Schatten und Zeichen, die man nicht lesen konnte.“

„Lettipark“ heißt die Geschichte, heißt auch Judith Hermanns neuer, vierter Erzählband, der von Begegnungen berichtet: von Momenten des gegenseitigen Erkennens, des Zweifelns, des Rückblicks. Von Augenblicken, die ewig nachhallen und die an der Kasse einer hippen Berliner Markthalle ebenso möglich sind wie in einem Hinterhof in Odessa oder einer unfertigen Hütte auf Nantucket.

Die 46-Jährige, die einst mit dem Debüterfolg „Sommerhaus, später“ die Renaissance der Kurzgeschichte befeuerte, wurde lange das Etikett „Fräuleinwunder“ ebenso wenig los wie das der „Berlinautorin“. Dabei waren Fräulein, Wunder und Berlin immer schon ein Missverständnis. Hermann lotet Innenwelten aus, die zwar meist weiblich sind, aber von einer sehr universellen Frage bewegt werden: Wie wurden wir die, die wir sind – und welchen Anteil haben andere Menschen daran? Gleichermaßen spielen zwar manche Geschichten in einem urbanen Raum, der gut Prenzlauer Berg sein könnte (wo die Autorin lebt); aber auch in Settings wie den Antillen oder einem brandenburgischen Bauernhof führt ihre Taktik der radikalen Reduzierung dazu, dass jede Geschichte klingt wie ein Gespräch, das man spätnachts bei einer letzten Zigarette im leeren Biergarten mit sich selbst führt: wenn Erinnerungen, Bilder, flüchtige Erkenntnisse aufblitzen und sofort wieder verblassen. Und nur vage die Idee zurückbleibt, dass alles hätte anders kommen können.

Tess hat ein Vorstellungsgespräch, aber ihre Jungen sind krank, sie ruft Nick an und er kümmert sich, bastelt Papierflieger mit ihnen, sie wollen den Weltrekord brechen, am Ende werden sie einen Flieger in die Nacht segeln lassen „und die weißen Flügel scheinen sich in der Dunkelheit aufzulösen“. Es passiert nichts, oder nicht viel, wie stets in diesen Stories. Trotzdem ist alles drin: Tess’ Illusion, eine Chance auf den Job zu haben. Nicks Illusion, eine Chance auf Tess’ Herz zu haben.

In wenigen Strichen skizziert

Hermanns Laborversuche drehen sich um unerwiderte Lieben wie um verflossene Freundschaften, sie skizzieren in wenigen Strichen das soziale Netz, das uns prägt. Wenn sie von Ella, Ada, Selma, Bojana, Ricco und Vito erzählt, erzählt sie vielleicht von sich – sicher aber von uns. Jede Figur ist ein Jedermann.

Mit „Lettipark“ hat sie uns ein Album voller Orte geschenkt, an denen wir schon gewesen sind, von denen wir kommen. Die Orte waren vielleicht alltäglich und grau; in ihren knappen, reduzierten Sätzen aber gewinnen sie ihr Geheimnis zurück, „zwischen den Bäumen ungewisse Schatten und Zeichen, die man nicht lesen konnte“.