Essen. Gegenwartsmusik in der Oper? Oft vom Publikum abgelehnt. Doch „Dogville“ in Essen wird als Triumph gefeiert. Wir sahen die Uraufführung im Aalto.

Lauter Jubel für ein rares Bild: Als sich am Samstag in Essen der Vorhang für den Schlussbeifall hebt, steht da kein Star-Tenor, kein Maestro. Es ist als erstes die gesamte Truppe der Bühnentechnik. Sie erntet Lorbeer für eine Leistung der Champions League.

57 Meter Bühnenbild haben sie an diesem Abend an unseren staunenden Augen vorüberziehen lassen. Es ist der optische Coup von Jo Schramm: eine in diesen rund 105 pausenlosen Minuten so sacht wie unerbittlich ansteigende Rampe. Plastischer kann man Fortschritt, der in den Abgrund führt, kaum ausdrücken. Es ist ein Leidensweg durch die kahlen Räume jener selbstgefälligen Dörfler, die die kaum verhohlene Erniedrigung jener betreiben, der sie zunächst Schutz zu bieten scheinen: Grace, die vor ihren Häschern geflohen ist.

Gordon Kampe macht Lars von Triers „Dogville“ zur Oper. Uraufführung in Essen umjubelt

Uraufführung einer zeitgenössischen Oper, das ist im Stadttheater nie ein leichter Gang. Aber es wird Gordon Kampes „Dogville“ am Aalto Theater zum Ereignis, ja zur bisher überzeugendsten Produktion der Saison, zum Triumph. Das sagenhafte Bühnenbild ist eine der zentralen Säulen dieses Erfolges. Listig trickst es den langen Schatten der Vorlage aus. Wir erinnern uns: Mit „Dogville“ verstörte der dänische Filmexzentriker Lars von Trier 2003: Das Drama um eine Frau, die eine nordamerikanische Dorfgemeinschaft unter geheuchelter Barmherzigkeit zur hündischen Hure macht, erzählte er in der schroffen Ästhetik einer auf Theaterzitate skelettierten Szenerie.

Dieser Kunstgriff wiederum hat in der Oper, die ihrer Natur nach so gut wie nie nach Realismus strebt, kaum einen Effekt. Doch in David Herrmanns Inszenierung lautet die Antwort ans Kino: Die Bühne selbst ist das bewegte Bild. Die junge Frau, deren Obdach zum Ort grausiger Qualen werden soll, betritt einen nicht enden wollenden Korridor der Unentrinnbarkeit. In Zeitlupe schieben sich so die Zentren einer Menschenverachtung ins Bild, deren Heimat das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist.

Thriller trifft antike Tragödie: Kampes „Dogville“ ist spannende Orchestermusik

Von Triers Geschichte legiert raffiniert das Muster eines Thrillers (Graces Vater ist Gangsterboss) mit der archaischen Wucht antiker Tragödien. Und diese Ebenen weiß der in Herne geborene Komponist Gordon Kampe mehr als clever zu füllen. Nein, die unentwegt elektrisierenden Klänge aus dem Orchestergraben sind gewiss kein reiner Zitat-Abraum. Und doch hören wir hier einen Neues suchen (und finden), den die Kraft von Bernard Herrmanns Schaffen für Hitchcock („Psycho“!) nicht weniger inspiriert als die bluttriefenden Aufschreie des Orchesters in Strauss’ „Elektra“. Gegenwartsmusik ist hier purer Krimi, sie ist (etwa im paramilitärischen Auftritt des Polizisten) deftige Ironie, ist im Glockenspiel, das bodenlose Gemeinheit umweht, honigsüßer Horror und dort galliger Spaß, wo Gordon der Zombie-Gesellschaft beim Barbecue windschiefe Walzer andichtet.

Essens Philharmoniker brillieren mit Generalmusikdirektor Tomas Netopil überwältigend in einer Hundertschaft irisierender Klangfarben. Das ist in Sachen Präzision, Formbewusstsein und dramatischem Puls kaum besser zu musizieren. Mag Gordons Kreativität im Orchestralen nicht jede der 14 (!) Partien erreichen (manches ist erwartbare Avantgarde), für die Heldin Grace erschuf er eine fantastische Partie. Kampe lässt sie uns hören als Nachfahrin der großen Opfer, der Mutigen, auch Rachebereiten der Operngeschichte. Und die famose Lavinia Dames geht (in einem sehr respektablen Ensemble) mit leuchtendem Sopran diesen Weg – von der ausweglosen Passion zum Engel mit dem Schwert.

Ein großer Abend!