Essen. Buh-Rufe und Jubel! Essens neue Verdi-Produktion begeistert durch musikalische Klasse. Szenisch dringt sie zu „Simon Boccanegra“ kaum vor.
Von Verdis Liebe zu Außenseitern hat sein Werk uns viel gesungen. Manche rühren als gesellschaftliche und soziale Tragöden (Traviata, Otello), in anderen (Don Carlo) spiegelt sich das Aufbegehren gegen eine ganze Welt. „Simon Boccanegra“ ist in beiden Reichen zu Hause. Dieser Underdog (ein Korsar) soll Doge Genuas werden. Das ist ein Bruch mit allem Gekannten, es provoziert den Adel, zumal es nach Unbequemem wie Volkes Stimme riecht.
Natürlich hat sich Verdi, dem (wie Schiller) das Verschwistern von Privatem und Politik die anregendsten aller Stoffe schenkte, verguckt in eine Geschichte, in der Simon ausgerechnet die Tochter des Genueser Platzhirschs Fiesco liebt. Damit fängt alles an in der Oper, die sich nach dem Prolog einen Sprung von 25 Jahren leistet: tot die Geliebte, versteckt das gemeinsame Kind, Boccanegra am Ruder, doch umgeben von den Fallstricken der Macht.
Premiere am Aalto-Theater für Verdis selten gespielten „Simon Boccanegra“
Es ist ein bedrückend missratener Abend, den Regisseurin Tatjana Gürbaca in Essen liefert. Und seltsam widersprüchlich schon in Sachen inszenierenden Handwerks: Mal bombardiert uns flachstes Tagesschau-Theater, am schlimmsten, wenn Gürbaca Urahnen der Trumpisten („Make Genova great again!“) den Dogenpalast mit Baseballschlägern stürmen lässt.
Mal Tagesschau, mal altbacken: Tatjana Gürbacas Inszenierun missriet
Dann wieder verfällt sie rätselhafterweise in einem komplett altbackenen Spielstil. Die klassischen Begegnungen großer Oper (ich hasse Dich!/hau ab!/ich räche mich!/ stirb, Schurke!/meine Liebe währt ewig!) verlaufen bei ihr allzu oft ohne Inspiration. Die Idee, das Ganze zugleich als offensichtliches Theater zu zeigen (wir sehen Bühnenarbeit beim Umbau oder Einnebeln) bleibt ungefüllt. Und wie sollen Zuschauende Figuren ernst nehmen, die in Kostümen (Silke Willrett) mit dem Aufdruck riesiger Prilblumen stecken? Das Aalto-Theater als Seifenoper.
Zu allem Überfluss steuert Klaus Grünberg ein Bühnenbild bei, das kaum die halbe Höhe des Raums nutzt. Dafür aber tut sich dieser unverbindliche, immer wieder händisch bewegte graue Scharnier-Riegel zuverlässig durch nervtötendes Geknarze wichtig. Er stört Arien, Duette und (zum ersten Akt) das vielleicht betörendste Vorspiel, das Verdi je schuf. Wie kann die Intendanz etwas derart Dilettantisches durchgehen lassen?
Musikalisch hat „Simon Boccanegra“ in Essen vielfach Festspiel-Niveau
Musikalisch dagegen reißt dieser Abend die Menschen von den Sitzen. Es regiert über weite Strecken Festspiel-Niveau – und das vielfach durchs feste Ensemble! Tenor Carlos Cardoso (Adorno) hören wir in der Form seines Lebens mit enorm fester, herrlich satt timbrierter Höhe, dazu einer filigranen Piano-Kultur, meisterlich! Jessica Muirheads Amelia fügt ihren vielen anrührenden Rollenporträts eine Perle zwischen Glut und Melancholie hinzu.
Als Gast räumt Daniel Luis de Vicente in der Titelrolle ab. Die Fülle seines Materials ist überwältigend und doch prasst der Bariton nicht wahllos, weiß stilvoll zwischen Held und Schmerzensmann zu differenzieren. Almas Svilpas hoher Bass taugt gut, die Brüche und Zweifel in der Dämonie des Fiesco zu zeichnen. Den Massen Liguriens fordert Verdis Partitur vom hauchigen Flüstern bis zum Furor im Fortissimo alles ab – und Essens Opernchor liefert vorbildlich.
Brillante Essener Philharmoniker begeistern das Publikum
Essens Philharmoniker zeigen sich einmal mehr als Operndramatiker erster Garnitur. Den vielen Schönheiten der selten gespielten Oper (in ihr gibt es reichlich Echos der Vorgänger, aber auch Ahnungen des Spätwerks) zollt das Orchester unter Giuseppe Finzis Leitung durch alle Gruppen brillant und hellwach Tribut. Diese Güte ist ein Grund, sich den Abend zu gönnen. Auf eine erstklassige Inszenierung der Spielzeit 2022/23 ist am Aalto-Theater indes weiterhin zu warten.
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KARTEN UND TERMINE
Verdi: Simon Boccanegra. Aalto-Theater Essen, drei Stunden, eine Pause.
Karten kosten zwischen 16 und 55€. Ticket-Telefon: 0201-8122200.
Die nächsten Aufführungstermine sind am 17. Februar, am 4. und 19. März und am 5. und 20. April.
Als nächste Premiere gibt es in Essen Gegenwartsmusik: Gordon Kampes „Dogville“. Die Uraufführung soll am 11. März sein.