Essen. „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“: Karl Ove Knausgård legt einen starken Roman vor. Er schreibt über Tod und Leben – und stellt große Fragen.

Krieg, Pandemie, Klimawandel: Die Erklärungsmodelle der westlichen Welt scheinen nicht mehr zu greifen. Die Vernunft gerät durch narzisstische Kriegstreiber wie Putin, Viren oder unseren unverändert hemmungslosen Konsum an ihre Grenzen. Der Fortschritt der Zivilisation stellt sich selbst in Frage. Genau darum geht es auch im monumentalen, neuen Roman von Karl Ove Knausgård.

Das Buch mit dem recht sperrigen Titel „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ist der zweite Teil eines auf fünf Bände angelegten Zyklus, der mit dem 2020 im Original und 2022 auf Deutsch erschienenen „Der Morgenstern“ begann. Erneut geht es um die ganz großen Fragen. Um nichts weniger als um Leben und Tod, die Abkehr vom Irrationalen in einer von der Wissenschaft dominierten Welt, und um die unsagbare Leere, die der Abfall vom Glauben in einer säkularisierten Gesellschaft hinterlässt. Wie schon im ersten Band offenbart der 1968 in Oslo geborene Knausgård sein Herz fürs Unerklärliche und für Wunder. Fast möchte man ihn für einen modernen Mystiker halten. Dafür aber ist noch zu unklar, wohin sein gewaltiges Romanprojekt führen wird. Waren es in „Der Morgenstern“ neun wechselnde Perspektiven, die von zwei Tagen im Sommer erzählten, so sind es im neuen Buch fünf. Keine Figur aus dem ersten Roman taucht im zweiten wieder auf, so dass jeder Band auch ohne Lektüre des anderen funktioniert.

Mit Karl Ove Knausgård von Tschernobyl bis in die Gegenwart

Die Handlung erstreckt sich diesmal von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im April 1986 bis hinein in die Gegenwart. Zwei Figuren stehen im Zentrum, die anderen am Rand. Da ist Syvert, der nach der Schule seinen Militärdienst in Norwegen geleistet hat und danach in ein Loch fällt. Die Zeit bis zur Philosophieprüfung für die Uni vertreibt er sich, indem er ein Auge auf Lisa wirft, auf seinen kleinen Bruder Joar aufpasst, während die krebskranke Mutter operiert wird, und die Garage aufräumt. Dabei entdeckt er Briefe, die sein vor zehn Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommener Vater von einer russischen Geliebten erhalten hat. Ein Schock. Beim Nachhaken erfährt er, dass der Vater die Familie verlassen wollte, bevor er starb. Eine Welt bricht zusammen.

Und dann ist da die Russin Alevtina, die als Doktorandin gescheitert ist, nun in Moskau als Dozentin für Biologie die Erstsemester unterrichtet und später doch noch Ärztin wird. Mag der Leser es auch vermuten: Erst auf Seite 827 der 1050 Seiten klärt Knausgård die Beziehung zwischen Syvert und Alevtina, und es wird ersichtlich, dass Alevtina das Kind von Syverts Vater ist – die beiden also Halbgeschwister sind.

Am Ende führt Knausgård alle Fäden kunstvoll zusammen

Anders als im ersten Buch werden alle Fäden am Ende kunstvoll zusammengeführt. Das ist kompositorisch exzellent gemacht, wenn es auch zwischenzeitlich Längen gibt und die Spannung nicht ganz an die von „Der Morgenstern“ heranreicht. Was die beiden Bände zusammenhält, ist, neben der seltsamen Himmelserscheinung, die kein Komet oder Asteroid ist, sondern sich nur durch ein Wunder erklären lässt, vor allem das Kreisen um die Grenze zwischen Leben und Tod geht und um den Glauben. Ein großer Roman der Moderne. Oder sollte man besser der Postmoderne sagen?

In abschweifenden, mitunter essayhaften Passagen spürt Knausgård aus natur- und geisteswissenschaftlicher Sicht dem Wunder des Lebens und der Vergänglichkeit nach. Er lässt Syvert über Dostojewskis „Schuld und Sühne“ nachdenken und Alevtina über Rilkes Satz, wonach wir den Tod von Geburt an in uns tragen. „Kinder haben einen kleinen Tod in sich, alte Menschen einen größeren Tod.“

Fremde Planeten mit lebenden Toten bevölkern

Vor allem aber lässt er Alevtinas Freundin, die Autorin Vasilisa Baranow, in einem Aufsatz über Nikolai Fjodorow (1829-1903) und den russischen Kosmismus reflektieren, über dessen Idee, alle Toten wieder zum Leben zu erwecken und fremde Planeten mit ihnen zu bevölkern. Ein wahnwitziges Vorhaben? Vasja schreibt: „Die Welt ist voll von Theorien, Ideen, Erklärungsmodellen, Phantasien. Wir akzeptieren manche und machen sie uns zu eigen, den Rest verwerfen wir. Was lässt uns ein Erklärungsmodell akzeptieren und ein anderes verwerfen? Zur einen Theorie Ja, zur anderen Nein sagen?“

Nach den sechs Bänden seines auf Deutsch 4619 Seiten umfassenden Mammutprojekts „Min Kamp“ (2009-2011) ist der „Morgenstern“-Zyklus das nächste ganz große Ding von Karl Ove Knausgård. Dem autofiktionalen Schreiben hat er vorerst abgeschworen, nachdem sich seine Exfrau in die Psychiatrie einliefern ließ und er mit deren Vater nur noch über Anwalt kommuniziert. „Ich habe meine Seele und meine Familie verkauft“, sagte Knausgård selbst dazu. Dass der Mann, der in seiner Heimat von einem Modeblatt zum „erotischsten Norweger“ erklärt wurde, auch unabhängig von seiner eigenen Person etwas zu erzählen hat, beweist er eindrucksvoll mit dem neuen Großprojekt, von dem er weite Teile während des Lockdowns in London geschrieben hat, während draußen, wie er in einem Interview äußerte, „der Tod vor der Tür rumorte“.