Essen. .

Der Norweger Karl Ove Knausgård untersucht in seinem ersten Band seines autobiografischen Großprojektes seinen Vaterhass. „Sterben“ ist das erste von sechs Büchern.

An einem Tag im Juli 1998 kann der Sohn seinen Vater zum ersten Mal ungehindert betrachten: ohne Rechtfertigung, ohne Angst. Das Vatergesicht ist wächsern, fremd, tot. In einer Kapelle in Kristiansand offenbart sich Karl Ove Knausgård das Drama des begabten Kindes. „Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich immer versucht hatte zu bestimmen, welchen Ausdruck sein Gesicht hatte, dass ich es niemals betrachtet hatte, ohne gleichzeitig den Versuch zu unternehmen, es zu deuten.“ Der Tod des Vaters löst ein „Gefühl von Freiheit“ aus und „Wellen der Trauer“.

Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård hat ein Werk geschrieben, das sich in die aktuellen Väterbücher (Arno Geiger, Hanif Kureishi, David Vann, John Burnside) einzureihen scheint. Knausgårds „Sterben“ aber unterscheidet sich nicht nur durch die Intensität der Hassliebe. Es ist vielmehr der erste Teil eines autobiografischen Projektes, das auf gnadenlose Selbsterkundung zielt.

Jugend in Norwegen

Dem Sterben des Vaters setzt Knausgård das Werden des Sohnes entgegen. Er erzählt von einer Jugend in Norwegen, vom Baden im Bach und der ersten eigenen Band, vom ersten Rausch: „Das Trinken tat mir gut, es setzte Dinge in Gang. . . . Hindernislos. Das war es, wohin ich vorstieß, in einen hindernislosen Zustand.“ Von diesem Ort aus allerdings scheint es nicht weit bis zum Haus der Großmutter, das der Vater mit seinem letztlich tödlichen Alkoholismus „schändet“. Doch nicht einmal jene Szenen, in denen die beiden Söhne das Haus unter und mit ihren Tränen säubern, sind der Höhepunkt der Selbstentblößung.

Denn die erschütterndsten Passagen treffen uns gleich zu Beginn ins Mark. Als er im Jahr 2008 mit seinem Projekt beginnt, da lebt Knausgård mit Frau und drei Kindern in Malmö. Familienglück – und „wenn Glück das Ziel gewesen wäre, dann wäre es genug“. Ein grauenvoller Satz, der von größtmöglicher Zerrissenheit zeugt. Oft weint seine vierjährige Tochter gar nicht mehr, wenn der Vater die Beherrschung verliert: „Als es zuletzt so war und ich so wütend wurde, dass ich sie rüttelte und sie bloß lachte, hatte ich eine Eingebung und legte eine Hand auf ihre Brust. Ihr Herz hämmerte. Oh, wie es hämmerte.“

Sein Werk als Sensation

Für Knausgård ist Schreiben gleichbedeutend mit „Niederreißen“: „Beim Schreiben geht es eher ums Zerstören als ums Erschaffen“, heißt es einmal. Und auch wenn es an dieser Stelle eigentlich um Form und Thema und Stil geht, ist die Radikalität des Satzes doch typisch. In Norwegen, wo bereits fünf von sechs Bänden erschienen sind, wird sein Werk als Sensation gefeiert.

Aber wohin soll das nur führen, wenn einer so radikal die eigenen Untiefen auslotet? Was bringt es uns Lesern? Vielleicht die Erkenntnis, wie wenig Selbsterkenntnis wir uns zutrauen. Knausgård macht sich zum Fall, der die Welt ist – und wir folgen ihm, atemlos, gebannt, bis zuletzt.

  • Karl Ove Knausgård: Sterben. Luchterhand, 576 S., 22,99 €. Lesungen: Montag, 20.6., 19.30 Uhr, Historisches Rathaus Münster. Dienstag, 21.6., 20 Uhr, Literaturhaus Köln.