Wieder ein Riesenroman von Karl Ove Knausgård. Auch „Der Morgenstern“ ist eine wichtige Publikation für unsere literarische Gegenwart.

Wieder legt der in London lebende norwegische Textberserker Karl Ove Knausgård einen ziegelsteingroßen Roman vor. Knapp 900 Seiten, auf denen es um alles geht, das sich aus den vielen kleinen Nichtigkeiten unserer Leben zusammenfügen lässt. Wieder liefert er dazu diese minuziösen Alltagsbeschreibungen, für die er berühmt geworden ist und mit denen er so genau den Nerv trifft, dass man liest und liest und die Zeit vergisst, weil sich das alles zu etwas Größerem verdichtet.

So war das in seinem sechsbändigen Zyklus „Min kamp“, in dem er die maskuline Sehnsucht nach Leben einkreiste und die diffuse Geworfenheit des Individuums in der Moderne herauspräparierte. Mit absoluter und akribischer Genauigkeit im Beschreiben kommt er unseren Empfindungen nah und näher im nicht nachlassenden Durchleuchten seiner Figuren. Im neuen, wieder überwältigenden Roman sind das neun Männer und Frauen, die er in langen, voneinander abgegrenzten und doch lose und raffiniert miteinander verzahnten Kapiteln reden lässt. So dehnen sie die Zeit von zwei Tagen im Spätsommer in einer norwegischen Provinz, wo die verzweigte Handlung angesiedelt ist.

Wieder ein Riesenroman: Karl Ove Knausgårds „Der Morgenstern“

Sie verbringen ihren Urlaub in Ferienhäusern oder leben hier und gehen einer Arbeit nach. Sie alle haben problematische Partnerschaften, denen sie fatalistisch zu entfliehen versuchen mit viel Alkohol, Affären oder auch nur in Gedanken. Sie sind in Gewohnheiten festgefahren, manchmal treffen sich einige von ihnen, doch fast jeder hat etwas gegen den anderen, weil er ihm aus Prinzip misstraut.

Arne ist Literaturprofessor, er hat viel erreicht, nun müssten die Dinge vollendet werden. Seine Frau Tove ist Malerin und verschwindet so sehr in ihrer eigenen Welt, dass er sie in eine psychiatrische Klinik einweisen lässt. Die Pfarrerin Kathrine hat mit ihrem Mann eigentlich nur noch die beiden Kinder gemeinsam und ein Netz aus Gewohnheiten. Ein Arbeitsseminar nutzt sie, um eine Nacht von zu Hause fernzubleiben. Ihr Mann wittert Betrug und wird den Gedanken nicht mehr los. Sie beginnen, sich gegenseitig zu kontrollieren.

Ein Markenzeichen: die absolute und akribische Genauigkeit im Beschreiben

Iselin ist Kassiererin im Supermarkt und seit Monaten unberührt, nur darum kreisen ihre Gedanken. Auch die Stationsschwester Solveig ist allein. Sie ist die immer Gute und Besorgte, kümmert sich daheim um ihre demente Mutter, doch dann bringt sie ein Patient durcheinander. Emil ist Kindergärtner, und ein Malheur wirft ihn aus der Routine. Die Ausstellungskuratorin Vibeke lebt mit einem doppelt so alten Mann.

Jostein war ein bemerkenswerter Kriminalreporter, bis sie ihn in die lokale Kulturredaktion herabgestuft haben. Er interviewt eine Künstlerin, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht, was ihn lächerlich aussehen lässt und doch zum Ziel führt, bis er vom spektakulären Ritualmord an drei Mitgliedern einer Death Metal-Band erfährt und den Stoff seines Lebens wittert. Derweil befriedigt Turid, seine Frau, ihre Sucht am Medikamentenschrank im Heim für geistig Gestörte, wo sie arbeitet, was ein Patient zur Flucht nutzt. Alle sind unterwegs und stehen auf der Stelle. Irgendwann verharrt jeder in seiner „totalen Vermenschlichung des Daseins“ und starrt in den Himmel, weil dort ein grell leuchtender neuer Planet als Himmelsphänomen strahlt. „Supernova“, weiß der übliche Radioexperte, und überhaupt hat jeder seine eigene Deutung, die wie immer in solchen Fällen nicht weiterhilft.

Wer bestimmt die Wunder: Jesus oder der Teufel?

Auch die Tiere erspüren eine Veränderung und spielen verrückt. Dann gibt es Tote, die nicht wirklich sterben können. Wunder über Wunder, und keiner kann sie mit seinem gar zu rationalen Denken erklären. Etwas Überweltliches drängt in die wie auch immer geordneten Leben. Egil Stray, der allein im geerbten Sommerhaus lebt, erkennt den Morgenstern und weiß, dass der Jesus oder den Teufel symbolisieren kann, wenn die Welt unruhig wird. So stand es schon im Augsburger Wunderzeichenbuch von 1552, wo die Offenbarung des Johannes zitiert wird, die Knausgårds Textgebirge das Motto gibt. „Wir sehen, was wir wissen“, formuliert Egil Stray, und dieses Wissen steht uns im Weg. Karl Ove Knausgård hat einen Roman geschrieben, der weiter weist und weiter weiß. Das macht ihn so wichtig in dieser Welt der gestörten Beziehungen.

Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand. 894 Seiten. 28€