Essen. Bruce Springsteen mal nicht weltbewegend, aber sehr unterhaltsam und gut tanzbar: das Retro-Cover-Album „Only The Strong Survive“ vom „Boss“.
Die nostalgietrunkene Grundstimmung seines neuen Albums, das am kommenden Freitag erscheint, setzt Bruce Springsteen gleich zum Auftakt. Mit „I remember my first love affair“, beginnt der Titelsong „Only The Strong Survive“ – da erinnert sich einer an seine erste Liebe, das Original von Jerry Butler stammt aus dem Jahr 1968.
Einmal mehr geht es beim Boss also ums Erinnern, ums Reflektieren und den Lauf der Zeit als solchen. Wie bereits in seiner Autobiographie „Born To Run“ (2016), dem berührenden Broadway-Lebensgeschichten-Stück „Western Stars“ sowie dem gleichnamigen Album (2019) und dem E-Street-Band-Album „Letter To You“ (2020), das im Kern ein musikalisches Lebewohl an verstorbene Wegbegleiter darstellt, hat sich Springsteen auch in der Coronatristesse auf innige Weise seiner Vergangenheit gewidmet. „Only The Strong Survive“, sein zweites Coveralbum (das erste war 2006 die klassische Folksongsammlung „We Shall Overcome: The Seeger Sessions“), ist eine liebevoll kuratierte Sammlung alter amerikanischer Soul- und R&B-Klassiker, ganz überwiegend aus der zweiten Hälfte der 60er-Jahre. Das war die Zeit, als Teenager Bruce anfing, mit wechselnden Bands in den Strandkneipen von New Jersey aufzutreten, seine künstlerisches Ich herauszubilden. „Als Barsänger am Jersey Shore in den Sixties und Seventies“, so Springsteen, „warst du ein Soul-Sänger.“
Ohne die Motown- und Stax-Records-Ära wäre Springsteen nicht Springsteen
Seitdem steckt er in ihm, der Soul. Meist unterschwellig, aber unüberhörbar. Ohne die großen Nummern der Motown- und Stax-Records-Ära wäre Springsteen nicht der geworden, der er seit einem halben Jahrhundert ist. Also, dachte er sich, warum nicht mal, gesegnet mit ungewöhnlich viel Tagesfreizeit, den Hut ziehen vor dieser großen Songkunst. Fünfzehn Soul-Klassiker hat er zu Springsteen-Soul-Klassikern gemacht, respekt- und geschmackvoll, und in Arrangement und Aufbau oft nah an den Originalen. Die gute Laune, die „Only The Strong Survive“ offenbar beim Einspielen gemacht hat, überträgt sich nahtlos beim Zuhören. Der Sound – verantwortet von Springsteens Stammproduzent Ron Aniello, der auch alle Instrumente abgesehen von den Bläsern spielt – ist fett, fast schon feist.
Springsteens Gesang ist wirklich großartig, klingt wie befreit von der gelegentlichen Gravität seiner Kunst. „Ich wollte einfach mal Musik machen, bei der meine Stimme im Mittelpunkt steht und bei der mich gesanglich wirklich fordere,“ lässt er sich vernehmen. Dabei hält er gar nicht so viel von sich als Sänger. „Mir war klar, dass ich mit meiner Stimme keine Preise gewinnen würde“, schrieb Springsteen in „Born To Run“. „Das Feuerwerk musste von den Songs kommen.“
Cover der Walker Brothers, den Commodores, Diana Ross und den Supremes
Aber jetzt? Singt er plötzlich im Falsett so wie auf „I Wish It Would Rain“ von den Temptations. In „What Becomes Of The Brokenhearted“ schmiert Springsteen gegenüber der meisterhaften Vokalarbeit eines Jimmy Ruffin nicht ab, auch „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“ kann mit der barocken Dramatik der Walker Brothers mithalten. Manchen Nummern hat er zugegebenermaßen nicht viel Neues hinzuzufügen, „Nightshift“ etwa klang bei den Commodores intensiver, auch in „Someday We’ll Be Together“ erreicht er – wenig verwunderlich – nicht das Feuer von Diana Ross und den Supremes. Aber die starken Momente sind in der Mehrzahl. Das weithin unbekannte „I Forgot To Be Your Lover“, im Original von William Bell, singt er mit behutsamer, tiefgehender Wehmut in der Stimme, und „Don’t Play That Song“ (Original Ben E. King, berühmteste Version Aretha Franklin) röhrt er mit rau raspelnder Stimme stimmungsvoll und doch schön locker aus der Hüfte.
In Frankie Wilsons „Do I Love You (Indeed I Do)“ gibt es jede Menge adventlich anmutendes Glockenspielgebimmel, Gospelsängerinnen, Geigerinnen und die Bläserfraktion der E Street Band, die einen fantastischen Job macht. In zwei Songs ist zudem der 87 Jahre alte R&B-Veteran Sam Moore (vom Duo Sam & Dave“) mit von der Partie.
Springsteen: Keine Rock’n’Roll-Rente!
Schon klar, strenggenommen braucht kein Mensch diese zwar zu Herzen gehende, aber nicht unbedingt essenzielle Vintage-Verbeugung Springsteens vor einigen seiner großen Inspiratoren. Andererseits: Warum denn eigentlich nicht? Bruce Springsteen, der im Radiointerview mit Howard Stern gerade der Rock’n’Roll-Rente eine Abfuhr erteilte, so lange auf der Bühne stehen will, wie er fit genug ist und 2023 mit seiner E Street Band auch endlich wieder in den Stadien zu erleben sein wird, liefert bestens ab. Und selbst, wenn man „Only The Strong Survive“ weder konzeptionell noch von der Umsetzung viel abgewinnen könnte, lässt sich auch von den notorischsten Nörglern wohl kaum in Abrede stellen, dass man zu dieser Platte echt verdammt gut tanzen kann.