Dortmund. Milan Peschel verdichtet am Theater Dortmund John Steinbecks Riesenroman „Früchte des Zorns“ zu 100 stark gespielten Bühnenminuten. Viel Beifall.

Go West! Dies ist die Geschichte der Familie Joad aus Oklahoma, die mit Sack und Pack Richtung Westen zieht. Wie viele „Okies“ sind sie durch Depression und Dürre hoch verschuldet und können die Pacht für ihr Land nicht mehr zahlen. Mit ihrem schrottreifen Lastwagen knattern sie über die Route 66 geradewegs ins Land ihrer Träume nach Kalifornien, wo Milch und Honig fließen und drei Dollar Lohn am Tag eine sorgenfreie Zukunft versprechen.

Das Schicksal amerikanischer Farmer in den 1930er-Jahren inspirierte den Autor John Steinbeck zu einem grandios gestalteten Generationenroman: „Früchte des Zorns“, 1940 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, ist eine bis heute beinharte Geschichte über den Zerfall einer Familie, ein Monster von Prosa, gehaltvoll bis ins letzte Komma. Dass sich gerade in jüngster Zeit immer wieder Theatermacher an dem legendären Stoff versuchen, verwundert keineswegs, die Parallelen zu unseren Tagen sind offensichtlich. Nicht von ungefähr wird der Stoff keine 40 Kilometer weiter am Essener Grillo Theater ebenfalls auf der Bühne gespielt, hier führt Hermann Schmidt-Rahmer die Regie.

Milan Peschel kommt ohne zwanghafte Aktualisierung aus

Auch Regisseur Milan Peschel, der jetzt in seiner ersten Arbeit am Theater Dortmund eine mehr als ansehnliche Adaption der Steinbeckschen Kapitalismuskritik auf die Bretter bringt, hält mit einem Kommentar zum Umgang mit heutigen Flüchtlingen nicht lange hinter dem Berg: „Okies sind der letzte Dreck“, schimpft einer, als die Joads unsicher ihre ersten Schritte ins gelobte Land setzen. Ein anderer fragt: „Seid Ihr aus dem Osten?“

Eine zwanghafte Aktualisierung ist Peschels Sache allerdings nicht. Vielmehr spricht aus jeder Szene dieser mit knapp 100 Minuten überraschend kurzen Aufführung eine tiefe Bewunderung des Romans, den Peschel und Dramaturgin Sabine Reich kräftig eingedampft haben. Tom Joad, sein Bruder Al, die schwangere Schwester Rose und der Wanderprediger Jim Casy: Das sind Figuren zum Gernhaben, kantig geschnitzt und mit griffigen Dialogen gesegnet.

Bruce Springsteens „The Ghost of Tom Joad“ in Endlosschleife

Einige Sorgfalt verwendet Peschel darauf, ihre Odyssee durch den Mittleren Westen zu zeichnen: Auf einem rollbaren Untersetzer, der mit Möbelstücken vollbepackt ist, zuckelt die Familie durchs Land – und sichtliche Freude hat das vorzüglich harmonierende Ensemble am vielseitigen Jammern und Lamentieren. Die Bühne von Nicole Timm zeigt dazu auf einer großen Leinwand staubige Landstraßen, später Zitate aus der Pop Art. Als Leitmotiv dient Bruce Springsteens Song „The Ghost of Tom Joad“, der in Endlosschleife gespielt wird.

Und so wird diese schlaue Steinbeck-Aneignung vor allem ein Abend für eine Reihe beeindruckender Schauspieler. Als besorgte Großeltern gelingen Bettina Engelhardt und Ekkehard Freye berührende Szenen. Lange könnte man Engelhardt dabei zusehen, wie sie eine Kartoffel schält. Die Rose der Linda Elsner versteckt ihre Unsicherheit hinter coolen Sprüchen. Wie sie am Ende eine Fehlgeburt erleidet, das schmerzt. Anton Andreew gibt Al, Prototyp des pfiffigen Halbstarken. Einzig Tom Joad selbst wird von der Regie zu großspurig angelegt, Alexander Darkow kann die traurigen Seiten der Figur erst am Ende zur Geltung bringen.

Als nächstes inszeniert Julia Wissert den Roman „Der Platz“ von Annie Ernaux

Das maskierte Publikum im voll besetzten Saal spendet euphorischen Beifall. Es scheint, als sei die junge Intendanz von Julia Wissert in Dortmund nach holprigem Corona-Start auf gutem Weg. Was die Hausherrin selbst beizusteuern hat, wird ab 30. Oktober zu sehen sein: „Der Platz“ nach dem Roman von Annie Ernaux ist ihre erste eigene Regiearbeit seit über einem Jahr.