Essen. Nach neun Spielzeiten ist Schluss: Hein Mulders wechselt als Opernchef von Essen nach Köln. Wir trafen ihn zum Abschieds-Interview.
Hein Mulders kommt eine Idee später zum Abschiedsinterview. Das ist unsere Schuld, nach neun Jahren Intendanz am Aalto wollen wir doch noch einmal aktuelle Fotos von ihm haben. So fragte Lars von der Gönna Mulders auch nach seinem Platz auf dem Familienbild eines großen Opernhauses.
Werden Sie gern fotografiert, Herr Mulders? Ich tippe: nicht so sehr...
Mulders: Ich stehe nicht so gern im Mittelpunkt, das stimmt. Auf einem Foto mit Freunden oder Kollegen zu sein, das ist schön, eine Erinnerung, ein Zeitdokument, mehr brauch’ ich eigentlich nicht. Aber ich hab’ über die Jahre was gelernt: Wenn man total natürlich in die Kamera guckt, sieht man meist blass aus (lacht). Ich lächle, das sind dann meist ganz brauchbare Bilder.
Was denken Sie, wenn Sie Bilder sehen, die wir damals bei Ihrem Antrittsbesuch gemacht haben?
Dann denke ich: Ich bin dicker geworden! (lacht) Ohne Scherz: Die drei Sparten, in denen man jeden Tag gleichzeitig Chef der Oper, des Orchesters und der Philharmonie ist, das war auch physisch heftig. Das ist auf meine Gesundheit gegangen, ich hab’ hier einfach meine Kondition vernachlässigt, das ist so.
Das mit dem Mittelpunkt ist ja ein Widerspruch. Der Intendant ist das Zentrum der Macht. Sie sind weder Dirigent noch Regisseur, eher Kulturmanager. Ein erster Mann in zweiter Reihe? Haben Sie sich manchmal als gefesselter Riese gefühlt?
Nein, wirklich nicht. Man sieht, was als Gericht auf dem Tisch erscheint, aber nicht, was in der Küche passiert. Ich laufe als Chefkoch ständig hin und her, aber ich greife nur ein, wenn ich denke: „Jetzt muss was passieren!“ Der künstlerischen Freiheit Raum zu geben, stand für mich sehr weit vorne. Aber ein Großteil meiner Arbeit liegt ja auch davor: Wunschkandidaten zu bekommen, ideale Regie-Teams und Dirigenten für eine Oper...
Apropos Dirigenten: Nicht jeder hat erwartet, dass nach Stefan Soltesz die Essener Philharmoniker zwangsläufig so brillant bleiben, ja in manchem Fach noch an Güte zulegen würden. Aber so ist es.
Freut mich, dass Sie das sagen. Stefan Soltesz hat geniale Dirigate hingelegt; Strauss oder Wagner von ihm, das war überwältigend. Mein Ehrgeiz war, dass wir neben dem wunderbaren Tomáš Netopil, der seinen Schwerpunkt auf Mozart und das slawische Repertoire gelegt hat, Dirigenten mit einem extrem passenden Schlüssel zum Werk engagieren. Daran ist ein sehr gutes Orchester noch einmal gewachsen. Wer hört, wie dieses Orchester seinen Verdi spielt oder in einer Barockoper aufblüht, der weiß, was ich meine.
Haben Sie einen Tag als einen besonders glücklichen in all den Jahren?
Es sind sehr viele. Aber um ein Beispiel zu nennen: Wenn man in einem einzigen Monat von Bartoli über Kožená und Garanča bis DiDonato vier Mezzosopranistinnen von Weltrang in der Philharmonie hat und nebenan noch eine erstklassige Opernpremiere, das hat mich schon sehr erfüllt!
Sprechen wir etwas Schwieriges an, was nichts mit Ihrer Intendanz zu tun hat. Die Tage, an denen man am Aalto Schlange stand, sind vorbei. Ich wurde als Student noch kartenlos nach Hause geschickt bei „Parsifal“ oder „Trovatore“. Das änderte sich schon vor Ihrer Zeit. Was ist passiert?
Wir müssen realistisch sein. Die Selbstverständlichkeit, mit der ein Theater- oder Konzertbesuch für viele zum Leben dazugehört, die sinkt ganz klar. Es gibt nicht nur einen Grund, aber wer sieht, wie seit Jahrzehnten Musikunterricht vernachlässigt wird, wie wenige Kinder von klein auf ans Singen geführt werden, wie wenig Wert auf musische Bildung oft in Schulen gelegt wird, den wundert die Entwicklung leider nicht. Niemand kommt von alleine auf die Idee: „Oh, ein Opernhaus, da muss ich hin!“ Es wird viel weniger hingeführt, das ist traurig. Welche Oma nimmt ein Enkelkind noch mit zu „Hänsel und Gretel“? Genau da wird aber die Zukunft gesät. Aber ich sehe auch in der Politik zu wenig Gegenbewegungen. Ich finde das oft einfach nur ärgerlich und simpel, wenn von teurer Elitekunst gesprochen wird.
Wenn uns vor zehn Jahren bei unserem ersten Interview jemand gesagt hätte „Euer letztes werdet Ihr angesichts einer Seuche und eines Krieges vor der Haustür führen!“, dem hätten wir wohl einen Kamillentee angeboten. Und nun sitzen wir hier zwischen Pandemie und Putin...
Die Pandemie hat für alle Theater enorme Folgen. Ich weiß nicht, ob wir alle Menschen, die derzeit nicht kommen, je wirklich zurückgewinnen. Was den Krieg angeht: Mein Eindruck, dass Musik ein Gegenentwurf sein kann, ein Konzert oder ein Oper ein Ort des Trostes, auch Balsam, hat sich durch die aktuelle Lage noch verfestigt. Es geht nicht darum, den Krieg zu verdrängen, aber ich verstehe Menschen, die in der Bühne nicht als erstes die Funktion der „Tagesschau“ sehen.
Als ich Ihren im Knatsch geschiedenen Vorgänger zum Abschied fragte, ob es noch einen Grund gebe, künftig nach Essen zu kommen, sagte er „Mein Zahnarzt“. Was ist Ihrer?
Das Aalto-Theater, die Essener Philharmoniker und die Philharmonie. Ich freue mich, diese beiden wunderbaren Häuser immer wieder zu besuchen. Ich hab’ es ja nicht weit!