Gelsenkirchen. Gefeierter Opernabend, schonungslos inszenierte Tragödie: Samstag hatte Puccinis Madama Butterfly am „Musiktheater im Revier“ Premiere.
Lauschen wir eingangs Volkes Stimme – Samstag, 22.25 Uhr, Musiktheater im Revier, Tür 11: „Überwältigend, nicht?“ – „Ja, aber ich hatte es irgendwie anders in Erinnerung!“
Tatsächlich stehen beide Sätze der zitierten Betagten nicht im Widerspruch zueinander. Gabriele Rech, die ihre Karriere einst in Gelsenkirchen begann, inszeniert eine „Madama Butterfly“ mit vielen doppelten Böden, unerbittlich, am Ende gar waghalsig. Um schönes Schwelgen unter Kirschblüten geht es ihr keinen Augenblick. Was wir seit Jahrzehnten (bei aller Bewunderung) in Puccinis Musik nicht überhören können, überträgt sie wuchtig auf die Bühnenerzählung: Nie ist etwas echt gewesen an diesem Japan, das den amerikanischen Militär Pinkerton und die Geisha Butterfly zum Paar macht. Wir erinnern uns an das brüchige Konstrukt: Der abenteuerlustige Yankee freut sich über eine monatlich kündbare Ehe und geht bald in die USA – das Mädchen, blind für das Kartenhaus-Konstrukt, glaubt an Liebe von Dauer.
Jubel für Puccini: Premiere von „Madama Butterfly“ am Musiktheater im Revier
Lieben heißt Lügen, Gefühle sind Fassade, das spinnt Rechs spannende, wenn auch im ersten Akt allzusehr unter einer Fracht von Botschaften, Zeichen und Strängen ächzende Regie entschieden weiter. Pinkertons Residenz (in dem auch bei Puccini Frauen zum Inventar gehören) ist eine Kreuzung aus armseligem Varieté und Bordell, selbst Butterfly muss über den Schwindel lachen, da sie dem Werbenden ihr Alter mit „15“ angibt. Das feine Geishatum: billige Maskerade. Der Bräutigam: ein Parvenü, der rasch noch sein Chewing Gum in eine Yen-Note spuckt, eher er (ins Mikro, wie in einer Karaoke-Bar) schmetternd sein Land der unbegrenzten Möglichkeiten besingt.
Wie sehr selbst das kurze Glück bedroht ist, deutet nicht zuletzt Dirk Beckers Bühne, die links vom Tingeltangel der Eheanbahnung Hokusais berühmte „große Welle vor Kanagawa“ als Katastrophe in der Wartestellung auffährt. Rech setzt nach dem ersten Akt die Pause, danach ist alles zerstört, die Papierwände des Pavillons verbrannt wie von einem Anschlag, Kollateralschaden kultureller Unterschiede. Butterfly selbst: heruntergekommen, eine Säuferin. Es ist schwer zu ertragen, aber ganz nah an der Geschichte – Hoffnung ist hier ein ewiges Begräbnis. Als Relikt trägt sie noch immer Pinkertons längst schmuddelig vergilbte Offiziersjacke. Lieben heißt Lügen, Pinkerton hat Butterfly belogen, Butterfly aber belügt sich bis zum bitteren Ende selbst.
Star des Abends ist die Sopranistin Ilia Papandreou in der Titelrolle
Die Intensität, mit der dieser Abend das sinnlose Warten aufs Glück erzählt, kann einen unmöglich kalt lassen. Das Bild, in dem – starr in jeder Hinsicht – Butterfly mit Koffer, dem gemeinsamen Kind, und ihrer treuen Dienerin Suzuki Pinkertons Rückkehr erwartet, ist schmucklos still inszeniert – und samt Plastikblumen umso erschütternder. Eine Schicksalsgemeinschaft, Endstation Sehnsucht.
Es gab gewaltigen Jubel für diesen Abend. Er galt an erster Stelle Ilia Papandreous Butterfly: wie die Sopranistin (anfangs noch hörbar nervös) sich von der mädchenhaften Duldsamkeit zum Furor der Verzweiflung aufschwingt, ist nicht weniger als ein Ereignis. Das Aalto-Theater sandte Carlos Cardoso als Pinkerton: herrlich fester Tenor-Kern, die Aufschwünge mühelos, sinnliche Schönheit – da stimmt einfach alles. Noriko Ogawa-Yatake war vor einem Vierteljahrhundert Gelsenkirchens Butterfly, nun singt sie deren Dienerin, mit Altersspuren, gewiss, aber umso anrührender. Tobias Glagau als Goro fällt auf: Rech zeigt ihn als Zuhälter, Glagau singt ihn mit feschem Glanz.
Es blüht und schimmert im Orchester: Die Neue Philharmonie Westfalen glänzt
Der Opernchor unter Alexander Eberle zeigt sich einmal mehr als Stütze des Hauses. Große Momente hat die Neue Philharmonie Westfalen: Puccinis fragile Textur lässt das Orchester vor allem in den leisen Passagen kostbar schimmernd erblühen, auch das Martialische wird imposant ausgesungen, die Blechbläser sind in brillanter Form, vor allem die Trompeten, für die Puccini Herausforderndes bereithält. Giuliano Betta am Pult könnte die Dimension des Klangs mitunter noch drosseln, den Sängern zuliebe. Alles in allem zweifellos: ein guter Abend für das Große Haus.