Essen. Dietrich Hilsdorf inszeniert „Lucia di Lammermoor“: Buhloser Jubel für die Inszenierung und eine musikalische Großtat am Aalto Theater Essen.

Walter Scotts Romanvorlage, in der Kraut-und-Rüben (wilde Stiere, Tod im Treibsand!) dramatisch wuchern, macht es einem vielleicht noch ein bisschen leichter als sonst, eine an Schauerpotenzial nicht arme Oper mit Spuk aufzumischen. Zu sehen bei Dietrich Hilsdorfs „Lucia di Lammermoor“ – jetzt im Aalto-Theater stürmisch gefeiert.

Die zentrale dichterische Freiheit des einstigen Verdi-Schockers, der Samstag (sichtlich selig) kein einziges Buh einsteckte, nennen wir mal flapsig mit einem alten Wirtschaftswunderschlager beim Namen: „Und die Mutter ist immer dabei“.

Gefeierte Premiere am Aalto Theater: Dietrich Hilsdorf inszeniert „Lucia di Lammermoor“

Denn jene „Cara Madre“, um die die Titelheldin von Donizettis Meisteroper anfangs weint, ist (abweichend von der Oper) bei Hilsdorf ein nicht totzukriegender Deibel. Ihr gewaltiges Sterbezimmer aus schwarz, grau und dem gnadenlos gleißenden Weiß eines alles abriegelnden Lichtgitters (Bühne: Johannes Leiacker) wird den dreistündigen Abend allein regieren. Es schärft diese Welt, die keine Burgen, Felsen und Nebel kennt, den Fluch der geschlossenen Gesellschaft – und das Bild einer jungen Frau, die Gefangene ist von Anfang an. Dass wir mehr Särge sehen als Hochland-Schafe: schlüssig.

Die treue Dienerin, der Lucia sie ihr Herz ausschütten kann? Konvertiert bei Hilsdorf zur Wiedergängerin einer (bei Scott tatsächlich dünkelhaft waltenden) Mutter. Unsere Leiche lebt noch: Die Alte (dämonischer Dragoner und wie alle hier eher viktorianisch als 17. Jahrhundert) nimmt Lucia in den Würgegriff der Blutsverwandtschaft...

Familie als Fluch: Am Aalto-Theater kommt Lucias Mutter aus dem Reich der Toten zurück

Hilsdorf schärft die Opferperspektive. Die düstere Ballade vom Fluch, der sich Familie nennt, erzählt er mit bekannten Konstanten seiner Arbeit: Natürlich sind wieder einmal Tisch und Bett die Säulen von Aufstieg und Fall der Figuren. Gezecht wird hier auch: Eine garstige Gesellschaft, in der kein Platz ist fürs Anderssein, feiert die Feste wie die Helden gleich neben ihnen fallen.

Obwohl große Kargheit diese Inszenierung dominiert, hat sie (bei kleinen erzählerischen Leerstellen vor der Pause) eine dunkle Sogwirkung. Gerade das Fehlen alles pittoresk Schottischen schafft in dieser Übernahme von der Dresdner Semperoper den klaren Fokus für jene Härte, Grausam- und Ausweglosigkeit, die sich nicht zuletzt am Bild des berühmten Brunnens festmacht – hier nur noch ein kalter Schacht, fahles Tor zu Abgrund und Verdrängtem. Eher ein kleiner Gag, den Ivanhoe-Schöpfer Scott mit Weltliteratur zu bedenken: Shakespeares „Macbeth“-Hexen weben an Anfang und Ende des Dramas.

Enorme Leistung: Essens Philharmoniker zeigen sich als glühende Anwälte Donizettis

Die „Lucia di Lammermoor“ ist einer der großen Würfe des Belcanto. Und ein Glück für sich ist, in welcher ausgezeichneten Form Essens Philharmoniker als Anwälte der mitunter unterschätzten Epoche agieren. Es ist nicht weniger als mustergültig, wie sie unter dem Dirigat des Apuliers Giuseppe Finzi die Partitur bis in kleinste Winkel ausleuchten. Das ist von einer plastischen Durchhörbarkeit sondergleichen - doch stets im dramatischen Fluss, immer extrem gespannt. In allen Gruppen, vom edelmürben Weben der Kontrabässen bis zu den Hörnern, hören wir eine erlesene, erstklassige Leistung, der Gabriele Bambergers betörendes Harfensolo die Krone schenkt. Mitreißend gut!

Grandiose Essener Philharmoniker und eine Titeldarstellerin ohne Makel

Hila Fahimas Lucia vermählt Mädchenhaftes und monströse Attacke ohne jeden Makel. Die Wahnsinnsarie ließ das Premierenpublikum vom liedhaft Keuschen über die köstlich gestalten Triller und Koloraturen bis zum irren Furor mucksmäuschenstill auf der Stuhlkante sitzen. Carlos Cardosos Edgardo beschwört die große Tradition der Tenöre mit der berühmten Träne im Kehlkopf auf hohem Niveau. Ivan Krutikovs Schurke Enrico darf auf üppige Bariton-Reserven bauen, fürs Gestalten gibt es bei ihm freilich vokal wie mimisch noch reichlich Potenzial. Es gab, nicht zuletzt für den starken Chor, am Ende ganz großen Jubel. Die Opernsaison hat einen Hochkaräter mehr auf dem Spielplan. Bravo!