Essen. Helden von nebenan: Jan Weilers Roman „Der Markisenmann“ siedelt im Ruhrgebiet der 2000er Jahre und lebt von Typen am Meidericher Kanal-Strand.
Er fängt recht spröde an, der neue Roman von Jan Weiler, der ihm tatsächlich zu einem Bildungsroman geraten ist, aber dann doch ohne eine Spur von Belehrung oder gar Langeweile auskommt. Aber wie soll man warm werden mit einer wohlstandsverwahrlosten Jugendlichen aus dem Kölner Nobelvorort Hahnwald, einem villengespickten Nobelviertel, das zu den teuersten Wohngegenden der Republik des Landes gehört? Die junge Egoismus-Extremistin Kim, die uns die ganze Geschichte erzählt, wird nach einem brutalstmöglichen Ausraster zur Strafe für die Sommerferien zu ihrem leiblichen Vater nach Duisburg geschickt. Den erblickt sie auf dem Bahnhof dort zum ersten Mal in ihrem Leben – und ist abgrundtief enttäuscht.
Dass sich aus den Hormonfeuerwerken Fasterwachsener locker unendlich viele Erzählfunken schlagen lassen, hat Weiler ja schon mit seinen drei „Pubertier“-Büchern hinreichend unter Beweis gestellt. Aber diesmal geht es um etwas anderes, es geht um Verrat und Schuld, um Strafe und Buße, um eigenwillige Formen des Verstehens, Verzeihens und Nichtverzagens.
Vorliebe für Klassiker des DDR-Rock, unsägliche Markisen-Modelle
Der heimliche Held dieses Buchs jenseits von Kim und ihrem Vater Ronald Papen, der mit herzerweichender Erfolglosigkeit versucht, den Balkonbesitzern im Ruhrgebiet seine heillos veralteten Markisen mit 70er-Jahre-Farben und -Optik (Modell „Mumbai“ oder „Kopenhagen“) zu verkaufen, ist eben dieses Revier und seine Typen, bei denen es sich um ausgesprochene Charakterdarsteller handelt. Ronald Papen lebt mit seiner ebenso ausgeprägten wie verräterischen Vorliebe für Klassiker des DDR-Rock in einer Lagerhalle zwischen Rhein-Herne-Kanal und Ruhr in Meiderich, und Kim entdeckt den ganz eigenen Reiz von Leuten wie dem Autoschrauber Lütz, dem schielenden Achim mit den Model-Muskeln oder dem amtierenden Weltmeister im Bremsscheiben-Weitwurf, den sie hier Oktopus nennen und der gegen Ende des Romans ein dramatisches Skatturnier der Awo in Rheinhausen auf eine ebenso unglückliche wie komische Weise gewinnen wird.
Wie überhaupt der spröde Zauber dieses Anfang der 2000er Jahre spielenden Buchs in seiner anhaltend gut ausbalancierten Mischung aus Unglück und Komik besteht, aus Ironie und aufgerautem Klischee und nicht zuletzt aus der Kunst, sich über die großen und kleinen Widrigkeiten des Lebens lächelnd hinwegzusetzen und auch im heißesten Sommer seit Menschengedenken ein bisschen Schneegestöber drüberzustreuen.
Lesevergnügen trifft Heimatgefühl zwischen Dornkaat und Fanta
Kim lernt zwischen Dornkaat und Fanta in „Rosi’s Pilstreff“, wo wie überall hier stellenweise die Zeit stehengeblieben ist, auch Alik kennen, einen russisch-tunesischen Jungen, mit dem sie am Kanal-Ufer den MBC einrichtet, den Meiderich Beach Club für Gestrandete aller Art, wo Kim den Miami-Urlaub mit ihrer Familie bald kein bisschen mehr vermissen wird.
Der Roman geht aus, wie sich das für einen ordentlichen deutschen Bildungsroman mit Hörnerabstoßen und Gesellschaftstauglichwerden gehört, wenn auch nicht ohne Tragik. Dass er leicht verfilmt werden kann, liegt auch an dem Kunststück, dass er spielend leicht den Auslöser fürs Kopfkino findet. Dass sein Autor zwischen den großen Konzernen des deutschen Buchmarkts hin und her pendelt? Dass sein aktueller Verlag eine perfide gut ausgeklügelte Marketingstrategie hinlegt, für die etwa auch in der Ruhrorter Kult-Hafenkneipe „Hübi“ Videoclips für Social Media und den Onlinebuchhandel gedreht wurden? Geschenkt. Für ein paar Stunden Lesevergnügen mit dem etwas anderen Heimatgefühl.